Angesichts der wachsenden Spannungen in der Türkei beantragen immer mehr Türken Asyl in Deutschland. Ein Experte erklärt, welche Menschen jetzt zu uns kommen - und warum oft genau diejenigen gehen, die die türkische Zivilgesellschaft am dringendsten braucht.
Nach einem Medienbericht steigt die Zahl der Asylanträge von Türken. Im ersten Halbjahr sei die Zahl fast schon so hoch wie im gesamten Jahr 2015, berichtet der Berliner "Tagesspiegel" und beruft sich dabei auf Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). 1.719 Anträge von Türken habe die Behörde von Januar bis Juni 2016 registriert. Im vergangenen Jahr seien es insgesamt nur 1.767 gewesen.
Auch wenn das Bundesamt noch nicht sagen kann, wie sich die Lage seit dem gescheiterten Putschversuch entwickelt hat, sei eine Zuspitzung wahrscheinlich, glaubt der Türkei-Experte Udo Steinbach. Der Islamwissenschaftler hat von 1976 bis 2007 das Deutsche Orient-Institut geleitet und erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion, wer die Flüchtenden sind, die jetzt in Deutschland Asyl beantragen.
Viele Flüchtlinge verfügen über einen geringen Bildungsgrad
Tatsächlich seien unter den Menschen, die aus der Türkei zu uns kommen, viele Flüchtlinge aus den kurdischen Gebieten, "die angesichts der Entwicklung in der Türkei nicht mehr auf eine Berücksichtigung ihrer politischen Interessen hoffen", so Steinbach. "Das wird natürlich in dem Masse weiter zunehmen, in dem die HDP, also die offizielle kurdische Partei, von der Regierung gleichgesetzt wird mit der verbotenen PKK".
Die Zahlen des BAMF decken sich mit Steinbachs Einschätzung. Laut "Tagesspiegel" seien von 1.719 Antragstellern in den ersten sechs Monaten 1.510 kurdischer Herkunft gewesen.
In dieser Flüchtlings-Gruppe befänden sich viele Menschen mit einem eher geringen Bildungsgrad, erklärt Steinbach. Im weniger entwickelten Osten der Türkei gebe es in den kurdischen Gebieten ein hohes Mass an Arbeitslosigkeit und schlechtere Ausbildungsbedingungen.
"Es ist Aufgabe der deutschen Behörden, zu entscheiden, ob diese politischen Asylanträge überhaupt angenommen werden können", sagt Steinbach. Offenbar sind es nicht viele - nur 6,7 Prozent der Anträge seien 2016 positiv beschieden worden, scheibt der "Tagesspiegel". Im letzten Jahr seien es noch 14,7 Prozent gewesen.
Hochqualifizierte auf der Flucht: Professoren, Medienvertreter, Künstler
Den Anstieg der Flüchtlingszahlen bremsen diese geringen Erfolgsaussichten offenbar nicht. Im Gegenteil: Laut Steinbach verlassen bei Weitem nicht mehr nur Geringqualifizierte aus den Kurden-Gebieten ihre Heimat. So würden gerade seit den "Säuberungen" der Erdogan-Regierung nach dem Putschversuch viele Hochqualifizierte emigrieren.
"Das sind Menschen, die unabhängig von der Kurdenfrage in der politischen Opposition stehen, zum Beispiel Professoren, Medienvertreter oder Künstler". Bereits seit einigen Monaten "beobachten wir, dass Akademiker, die es sich leisten können und die Verbindungen haben, die Türkei verlassen". Diese Menschen reisten oft nach Deutschland, auch deshalb, weil viele erst vor einigen Jahren aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrt seien.
"Erdogan reisst jetzt durch seine Politik ein, was er in den vergangenen Jahren aufgebaut hat". Regelrecht geworben habe die Türkei um gut ausgebildete Rückkehrer aus dem Ausland. "Genau jene gut Ausgebildeten verliert das Land jetzt wieder", glaubt Steinbach, der von einem "Exodus der Hochqualifizierten" spricht.
"Wir importieren ein politisches Problem"
Für Deutschland bedeute das, "das wir hier die Menschen wiederfinden, die für eine andere Türkei stehen". Menschen, die die türkische Gesellschaft dringend brauche und die "von Deutschland aus auf eine andere Türkei hinarbeiten müssen, mit unserer Unterstützung", betont Steinbach.
Deutschland müsse sich überlegen, wie es die Bemühung der Exilanten für eine andere Türkei jetzt begleiten könne, zum Beispiel durch die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Institutionen in der Türkei.
Zunächst gewinne jedoch die hiesige Gesellschaft viele hochqualifizierte Arbeitnehmer. Gleichzeitig müsse sich das Land "den Problemen stellen, die sich möglicherweise mit der Integration der geringer qualifizierten Flüchtlinge aus den kurdischen Gebieten" ergeben würden. "Da importieren wir auch ein politisches Problem", sagt Steinbach.
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