Die Einreise in die Schweiz an der Südgrenze ist für Migranten schwieriger geworden, die Zahl der Rückweisungen nach Italien hoch. Como spürt die Konsequenzen dieser Entwicklung. Am dortigen Bahnhof biwakieren Migranten auf ihrem Weg nach Norden. Ein Augenschein im Grenzgebiet.

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Es ist ein gewaltiger Strom, der sich an Vormittag gen Süden ergiesst. Die Reisewelle von Mitte Juli rollt. Autos, Camper, Wohnwagen, Cars: Alles scheint Richtung Italien zu streben. Schon einige Kilometer vor dem Grenzübergang Chiasso staut sich der Verkehr auf der Autobahn auf beiden Spuren. Autofahrende brauchen Geduld. Nicht besser sieht es in den EuroCity-Zügen von Zürich nach Mailand aus. Sie sind gerammelt voll. Eine Platzreservation ist nicht mehr möglich.

Doch es gibt eine kleine, etwas unauffälligere Gegenbewegung. Sie hat mit Urlaub nichts zu tun: Die Migranten, die auch an diesem Tag in Richtung Norden unterwegs sind. Im Bahnhof von Chiasso wird eine grosse Gruppe von Schwarzafrikanern von Grenzwächtern und Prosegur-Personal (Sicherheitsdienst) auf den EC 310 begleitet, der um 10.42 Uhr in Richtung deutsche Schweiz abfährt. Es sind Asylsuchende. In der Hand halten sie A4-Blätter, die sie zur Zugfahrt berechtigen, nachdem sie im Empfangs- und Verfahrenszentrum von Chiasso erfasst und auf die deutsche Schweiz verteilt worden sind.

Am gleichen Bahnsteig kontrollieren Grenzwächter Immigranten, die in die Schweiz einreisen wollen. Der Druck hat in den letzten Monaten markant zugenommen. Das Grenzwachtkorps hat seine Präsenz verstärkt und griff allein in der ersten Juli-Woche 1321 Menschen auf, die sich illegal im Land aufhielten.

Mehr illegale Grenzübertritte

Allerdings stellten weniger Personen einen Asylantrag. Daher wurden sie im Rahmen eines Rückübernahme-Abkommens gleich wieder nach Italien gebracht. In der ersten Juli-Woche gab es 966 solcher Rückweisungen – das entspricht zwei Dritteln der illegalen Aufenthalter.

Diese gegenläufige Entwicklung – mehr illegale Grenzübertritte, weniger Asylsuchende - ist auch dem Staatssekretariat für Migration (SEM) nicht entgangen. Der Grund? Die Schweiz wende das Dublin-Abkommen konsequenter an als alle anderen europäischen Staaten, vermutete SEM-Chef Mario Gattiker dieser Tage in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung. Gleichzeitig sei Italien robuster geworden.

"Die Hotspots funktionieren, die Migranten werden systematischer registriert. Viele der registrierten Asylsuchenden wissen, dass sie zum Dublin-Fall werden und von der Schweiz wieder nach Italien überstellt werden", so Gattiker.

Wartehalle unter freiem Himmel

Die Konsequenz aus dieser Situation: Immer mehr Migranten, die via Schweiz nach Nordeuropa reisen wollen, stranden in Como, nur wenige Kilometer vor der Schweizer Grenze. Vor allem der Bahnhof San Giovanni hat sich zu einer Art Wartsaal für Migranten entwickelt. Dies ist auch an diesem Nachmittag zu sehen.

Direkt unterhalb des Bahnhofs biwakieren etwa 30 Migranten im schattigen Park; die Passanten haben kaum einen Blick für sie übrig. "Es sind fast alles Eritreer", weiss Maurizio, der hier als freiwilliger Helfer einer Pfarrgemeinde wirkt. Skandalös seien diese Zustände, regt er sich auf. Einzig am Abend hole die Caritas die Flüchtlinge mit einem Bus ab, um sie zu einer Mensa zu bringen. Ansonsten kümmere sich niemand um sie.

Warum? Die Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge in Como hätten ihre Kapazitätsgrenze erreicht, sagt Caritas-Direktor Roberto Bernasconi. Er hat auch in der Schweiz – über den Stadtpfarrer von Chiasso – einen Spendenaufruf lanciert. Insbesondere Decken werden gebraucht, denn trotz Hochsommers sinken die Temperaturen in der Nacht stark.

Ping-Pong an der Grenze

Ein 24-jähriger Eritreer erzählt in gebrochenem Englisch, dass er drei Mal in die Schweiz eingereist und jedes Mal zurückgeschickt worden sei. Ein Ping-Pong zwischen Chiasso und Como. Was hat er nun vor? Wo will er hin? Was sind seine Ziele? Er kann es nicht sagen und wiederholt ständig: "I want freedom, freedom." Auf dem Boden liegen Familienangehörige auf Decken, darunter auch ein eineinhalbjähriges Baby.

Einige erzählen, sie sässen hier fest, wüssten nicht mehr weiter. Manche wollen nach Deutschland, andere nach England. Sie verstehen nicht, warum sie nicht durch die Schweiz reisen können. Unter Büschen stapelt sich der Abfall. Unschöne Zustände, allerdings nicht annähernd vergleichbar mit dem mittlerweile geräumten Flüchtlingslager von Calais, so wie es manche Lokalpolitiker in Como dieser Tage Glauben machen wollten.

Die lokale Tageszeitung "La Provincia" berichtet, dass nachts bis zu 150 Flüchtlinge am Bahnhof campieren, zuletzt auch eine Eritreerin mit einem neugeborenen Kind. Sie habe versucht, mit dem Zug in die Schweiz zu gelangen, weil sie zu Verwandten nach Deutschland wollte; sei aber zurückgewiesen worden. "Ich werde es wieder versuchen", sagt sie. Die Zeitung zeigt ein Bild von einem Stubenwagen für das Baby, der von einem Spender geschenkt wurde und nun unter einem Baum im Freien steht.

Behörden handeln

Doch die Behörden von Como sind wenig erfreut über die Entwicklung, vor allem nachdem letzte Woche die Zahl der campierenden Flüchtlinge angeschwollen war und sogar internationale Medien berichteten. Denn das Image der Comer-See-Region, wo Stars wie George Clooney Villen besitzen und viele Touristen Ferien machen, leidet unter negativen Schlagzeilen.

Die britische Zeitung "DailyMail" etwa brachte einen ausführlichen Bildbericht zur Flüchtlingssituation am Bahnhof. Dabei kursierten durchaus auch einige Falschinformationen, etwa die Behauptung der italienischen Tageszeitung "La Repubblica", die Schweiz habe ihre Grenzen geschlossen und lasse nur noch alle 14 Tage 100 Flüchtlinge durch.

Inzwischen haben die Behörden reagiert, ganz offenbar soll vermieden werden, dass sich in Como eine zu grosse Masse von Migranten bildet, die auch versuchen könnte, im Pulk Richtung Norden zu marschieren. 100 Migranten wurden daher vor einigen Tagen auf Geheiss der Präfektur direkt vom Grenzübergang Ponte Chiasso mit Cars nach Taranto in Südtialien zurückgebracht.

Und auch in den Zügen, die von Mailand Richtung Chiasso fahren, kontrolliert die italienische Polizei mit eiserner Hand. Zumindest liess sich feststellen, dass etliche Migranten bereits in Monza, der ersten Station nach Mailand, aus dem RegioExpress geholt wurden, der ins Tessin unterwegs war. Der Tonfall der Polizisten war mehr als rau. Die Migration beschäftigt Polizisten und Grenzwächter – beidseits der Grenze.  © swissinfo.ch

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