Deutschland reagiert in der Flüchtlingskrise wie hirnlose Hippies - dieser Meinung ist zumindest der britische Politologe Anthony Glees. Auch andere Staaten üben Kritik am neuen Kurs der Bundesregierung in der Asylpolitik – zu Recht?
Die grosse Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge könne die Deutschen "ein Stück weit auch stolz machen auf unser Land", sagte Bundeskanzlerin
Doch in manchen EU-Ländern findet das deutsche Engagement keine Bewunderung. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban wirft Deutschland vor, Menschen im Nahen Osten zur Flucht zu ermuntern. Auch der britische Politologe Anthony Glees kritisiert den deutschen Kurswechsel in der Asylpolitik scharf. In einem Interview im Deutschlandfunk behauptet er, dass die Briten kein Verständnis dafür hätten. "Viele meinen, die Deutschen haben hier ihr Gehirn verloren", sagt Glees.
Gerhard Dannemann, Professor für Englisches Recht am Grossbritannien-Zentrum der Humboldt-Universität zu Berlin, teilt diese Beobachtung nicht. "Ich sehe das genaue Gegenteil", meint er. Die britischen Medien wie "BBC" oder "The Guardian" berichteten sehr positiv über die deutsche Haltung. "Ich habe den Eindruck, dass Glees der britischen Regierung sehr nahesteht", vermutet Dannemann.
Bricht Deutschland EU-Regeln?
Glees empört sich besonders darüber, dass Deutschland EU-Gesetze ausser Kraft setze – obwohl es gerade in der Griechenland-Krise auf die Einhaltung der Regeln bestanden hat. Deutschland verhalte sich als "Hippie-Staat", der nur von Gefühlen geleitet werde, kritisiert er.
Nach dem Dublin-Abkommen müssen Asylbewerber eigentlich in dem EU-Land registriert werden, in das sie zuerst einreisen. Diese Vereinbarung hat die Bundesregierung für Flüchtlinge aus Syrien zuletzt aufgehoben, indem sie ihnen ein Asylverfahren in Deutschland versprach.
"Das wird nicht nur in Grossbritannien sehr kontrovers diskutiert, weil die Anreize nach Deutschland beziehungsweise nach Europa zu kommen, gestiegen sind", sagt Nicolai von Ondarza, EU- und Grossbritannien-Experte bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik. Er sieht das aber als Auftakt einer grossen Debatte darüber, wie man den massiven Anstieg an Flüchtlingen in Europa bewältigen kann.
Denn das Dublin-Abkommen ist schon lange umstritten. "Es ist sehr oft zu Recht kritisiert worden", findet Rechtswissenschaftler Dannemann. Es sei "egoistisch" von Ländern wie Deutschland durchgesetzt worden, lautet der Vorwurf, da sie ohne EU-Aussengrenzen kaum für Asylbewerber zu erreichen sind. So gesehen gehe Deutschland auf diese Kritik gerade ein. "Man kann auch konstatieren, dass das Dublin-Abkommen gescheitert ist", urteilt Dannemann.
Treibt Deutschland die EU auseinander?
Die Briten hätten "Angst, dass der Charakter von Europa sich jetzt grundsätzlich verändern wird", führt Glees im Deutschlandfunk aus: "Diese Gesetzlosigkeit preiszugeben, kann das Ende der Union bedeuten."
Das Grundproblem sieht EU-Experte von Ondarza woanders: "Deutschland wird immer mehr zu einer Führungsmacht in der Europäischen Union". Bei den Krisen der vergangenen Jahre sei "mindestens ebenso viel nach Berlin gesehen worden wie nach Brüssel".
Deutschland habe dadurch ein anderes Gewicht bekommen. "Ich glaube aber, dass es in der Flüchtlingskrise das Richtige ist, hervorzutreten und zu sagen: Wir müssen über neue Regeln in der EU verhandeln", erklärt von Ondarza.
Die Sorge um die Europäische Staatengemeinschaft auf britischer Seite erstaunt ohnehin angesichts der dort breit geführten öffentlichen Debatte um einen Austritt aus der EU. "Die Briten haben die Europäische Union immer sehr pragmatisch gesehen", erklärt Dannemann. Da gehe es eher um freien Warenverkehr als um eine gemeinsame Vision: "Sie sind weniger am Gesamtprojekt Europa interessiert."
Glees: Deutschland drückt sich bei Militäreinsätzen
Grossbritannien mische sich im "Lebenskampf" gegen den Islamischen Staat (IS) ein, hebt Glees hervor. "Deutschland dagegen hält sich immer auch aus diesen Sachen heraus."
"Die Annahme, man könne die Flüchtlingskrise über einen schnellen Militäreinsatz in Syrien lösen, ist nach meiner Ansicht nicht richtig", betont EU-Experte von Ondarza. Dies zeige auch die geringen Erfolge der USA und anderen Staaten gegen den IS. Das britische Parlament hat zudem einen Einsatz in Syrien vor zwei Jahren abgelehnt. "Dieser Vergleich ist daher aus meiner Sicht falsch", sagt von Ondarza.
Grundsätzlich ist Grossbritannien offener bei der Beteiligung an Militäraktionen als Deutschland. "Zum Beispiel müssen Militärausgaben nicht so stark gerechtfertigt werden", sagt Grossbritannien-Experte Dannemann. Seit dem Irak-Krieg, der derzeit noch aufgearbeitet werde und um den es eine auch emotional geführte "Riesen-Debatte" gebe, habe diese Bereitschaft allerdings abgenommen.
Grossbritannien beteiligt sich nicht an der europäischen Asylpolitik
Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien hat Grossbritannien bisher nur 5.000 Flüchtlinge von dort aufgenommen. Das Land gehört nicht zum Schengen-Raum und ist an der gemeinsamen europäischen Asylpolitik nicht beteiligt.
Grossbritannien erhält vor allem Einwanderung aus den ehemaligen Kolonien und Commonwealth-Ländern. Auch nach der EU-Osterweiterung kamen viele neue Immigranten auf die Insel. Die Einwanderung habe zwar einerseits zu wirtschaftlichem Erfolg geführt und die Geburtenquote stabilisiert, erklärt Dannemann. Andererseits habe die hohe Zahl an Immigranten auch Ressentiments hervorgebracht, die auch die rechtspopulistische Partei UKIP zu nutzen weiss. Obwohl Grossbritannien lange Zeit als einwanderungsfreundlicher als Deutschland galt, mehren sich in der Debatte nun die kritischen Stimmen.
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