Für die vielen Tausend Flüchtlinge, die in diesen Tagen in Europa ankommen, ist Deutschland derzeit das Ziel Nummer eins. Die Gründe dafür sind oft eher banal – manchmal auch Unwissenheit. Warum momentan so viele Flüchtlinge nach Deutschland wollen.
"Germany, Germany", hallte es vergangene Woche durch den Bahnhof Keleti in Budapest. Die Flüchtlinge, die dort festsassen, wollten ausreisen – nach Deutschland. Vereinzelt waren sogar deutsche Fahnen und Fotos von
Dabei trügt der Schein ein wenig: Wer seine Heimat verlässt, geht meistens nicht weit weg, sondern bleibt sogar oft innerhalb des Landes. Im ersten Halbjahr 2014 wurden weltweit 5,5 Millionen Menschen vertrieben, rund 1,4 Millionen gingen über die Grenze. Die Länder, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen, liegen in der Nähe von Krisenregionen: Die Türkei, Pakistan, der Libanon, der Iran, Äthiopien, Jordanien.
Allerdings nimmt keine Industrienation der EU so viele Flüchtlinge auf wie Deutschland. 179.000 Asylanträge wurden im ersten Halbjahr 2015 gestellt, die Prognose für das Gesamtjahr geht von bis zu 800.000 aus. Wie stark die Anziehungskraft Deutschlands offenbar ist, zeigte sich in der Vorwoche: Als mehr als 10.000 Flüchtlinge aus Ungarn nach Österreich ausreisen durften, stellten nur 20 Menschen Asylanträge in der Alpenrepublik.
Der Rest stieg in Züge Richtung München. Warum wollen sie nach Deutschland und nicht woanders hin? Fünf Gründe:
1. Die Community
"Flüchtlinge haben das rationale Interesse, dorthin zu gehen, wo es Anknüpfungspunkte gibt", sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von "Pro Asyl". Es klingt banal, hat aber einen grossen Effekt: Wo bereits Verwandte oder andere Landsleute leben, können die Flüchtlinge einfacher Kontakte knüpfen und Hilfe im Alltag finden. In Deutschland leben bereits 150.000 Syrer, 100.000 Iraker und 85.000 Afghanen.
Auch eine Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aus dem Jahr 2013 hat ergeben, dass dies der wichtigste Grund für Flüchtlinge ist, in Deutschland um Asyl anzusuchen. Demnach geben rund ein Drittel aller Asylbewerber an, hier Verwandte zu haben.
Dieses Muster findet sich auch in Österreich: Während des Balkankriegs nahm Wien Zehntausende Flüchtlinge auf. Auch jetzt versuchen viele Menschen aus Serbien, Montenegro und dem Kosovo, in Österreich Asyl zu bekommen. Noch im Januar 2015 waren Kosovaren hier die grösste Flüchtlingsgruppe.
Das Beispiel Österreich illustriert auch den schiefen Eindruck, den die Ereignisse der Vorwoche vermitteln: Zwar reisen momentan absolut gesehen die meisten Flüchtlinge nach Deutschland. Doch das ist nur eine Momentaufnahme. Denn in Österreich kommen 1,1 Flüchtlinge auf 1.000 Einwohner, in Deutschland 0,9. EU-"Spitzenreiter" ist in dieser Statistik sogar Ungarn mit 3,3 Flüchtlingen auf 1.000 Einwohner.
2. Die wirtschaftliche Stärke
"Deutschland ist das wirtschaftsstärkste Land Europas", sagt Günter Burkhardt. "Deswegen glauben die Flüchtlinge, dass sie hier die beste Integrationsperspektive haben." Aussagen wie die von Daimler-Chef Dieter Zetsche machen zusätzlich Hoffnung: Er kündigte an, in Flüchtlingszentren Arbeitskräfte suchen zu wollen. "Die meisten Flüchtlinge sind jung, gut ausgebildet und hoch motiviert", sagte er. "Genau solche Leute suchen wir doch."
"Pro-Asyl"-Mann Burkhardt fordert allerdings, dass andere westliche EU-Staaten mehr Flüchtlinge aufnehmen müssen: "Vor allem Grossbritannien und Frankreich müssen mehr tun."
3. Das Image
Made in Germany ist eine starke Marke, nicht nur wegen der Wirtschaft. Ungarns Botschafter Jozsef Czukor verstieg sich bei "Maybritt Illner" in die unangemessene Aussage, manche Menschen kämen "wegen Borussia Dortmund" nach Deutschland. Ein Fünkchen Wahrheit steckt in dieser Aussage: Deutschland gehört zu den bekanntesten Ländern der Welt. Tatsächlich blickten viele Reporter vergangene Woche in fragende Gesichter, als sie den Menschen sagten, sie seien in "Austria". Österreich? Für viele nur ein weiteres Land auf dem Weg nach Deutschland.
Die Studie des BAMF konstatierte, es herrsche ein "insgesamt sehr positives Deutschlandbild" in der Welt. Für Günter Burkhardt von "Pro Asyl" herrscht da eine Diskrepanz, "schliesslich fehlt es an einer richtigen Integrationspolitik". Über die genauen Rahmenbedingungen wüssten die meisten Flüchtlinge sehr wenig, heisst es in der Studie. Tatsächlich seien einige schockiert, wenn sie mit der Realität in Deutschland konfrontiert werden, erklärt ein in der Studie zitierter Experte: "Dass man als Asylbewerber erst mal ein Jahr gar nichts machen darf, ist oftmals nicht Wissensstand."
4. Die ökonomische Sicherheit
Das ist ein umstrittener Punkt. Die CSU und Teile der CDU fordern, das Taschengeld von 140 Euro im Monat durch Sachleistungen zu ersetzen. Mit dem Taschengeld locke man Asylbewerber nach Deutschland, sagte Thomas Strobl, Landeschef der CDU in Baden-Württemberg. Das sei fast ein Monatsgehalt in Serbien. Das stimmt aber nicht: Denn das liegt bei durchschnittlich rund 400 Euro. Ausserdem müssen die Asylbewerber hier deutlich höhere Preise für die Lebenshaltung zahlen.
Die Opposition lehnt den Vorschlag ab, auch Günter Burkhard von "Pro Asyl" ist dagegen – aus grundsätzlichen Erwägungen: "Das ist verfassungswidrig. Hier geht es um die Deckung des soziokulturellen Existenzminimums." Individuelle Bedürfnisse wie Kommunikation, Bildung, Freizeit und Kultur könnten nur durch Bargeld sichergestellt werden.
Ob überhaupt Menschen in Deutschland um Asyl ansuchen, um staatliche Leistungen zu geniessen, ist unklar. Eine Statistik dazu gibt es natürlich nicht. Die Studie des BAMF bezweifelt das stark. Die Mehrheit der Flüchtlinge sei bestrebt, für ihr Geld zu arbeiten, heisst es da – schon weil sie das Modell des Wohlfahrtsstaates gar nicht kennen. "Die Leute erwarten nicht, dass der Staat sie durchfüttert, weil sie sich so was gar nicht vorstellen können."
5. Transitland Deutschland
Deutschland liegt in der Mitte Europas, also auch auf der Route nach Skandinavien. Viele versuchen auch über Deutschland in die Beneluxstaaten oder nach Grossbritannien zu kommen. Wer auf seiner Reise durch Deutschland ohne Papiere aufgegriffen wird, wird hierzulande registriert. Damit findet auch das Asylverfahren in Deutschland statt. Manche Flüchtlinge werden auch einfach von ihren Schleppern ausgesetzt, obwohl sie in ein ganz anderes Land wollen; anderen geht auf der Durchreise das Geld aus.
Wie hoch der Anteil dieser "zufälligen" Flüchtlinge ist, lässt sich jedoch schwer sagen. Das BAMF beziffert ihn auf rund sechs Prozent.
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