Stacheldraht, Flugverbot und ein hoher Zaun – Ungarn tut gerade alles, um die illegale Einreise von Flüchtlingen zu verhindern. Derweil wettert Ministerpräsident Victor Orbán gegen Muslime und gibt Deutschland die Schuld an der Krise. Welches Ziel verfolgt der Premier mit seiner Politik?
Seit Montag sind auch die letzten paar Meter dicht. Stacheldraht hängt vom dem Eisenbahnwaggon, den Ungarn an der Grenze zu Serbien geparkt hat. Er gehört zu einem 175 Kilometer langen Zaun, den die Regierung in den vergangenen Wochen errichten liess. Seit Anfang der Woche ist er lückenlos geschlossen, auf einem 20 Kilometer breiten Korridor hat die Regierung auch gleich noch den Luftraum gesperrt. Und seit Dienstag gilt ein Gesetz, das illegale Grenzübertritte als Straftat behandelt und nicht mehr wie zuvor als Ordnungswidrigkeit. Illegalen Einwanderern droht nun das Gefängnis. Hinzu kommt die Meldung, dass ein zusätzlicher Zaun gebaut wird - um auch aus Richtung Rumänien eine unerwünschte Einreise zu verhindern.
Die Botschaft aus Budapest ist klar: Ungarn schottet sich ab. Gerade erst griff Ministerpräsident Viktor Orbán im Interview mit der "Bild" zu deutlichen Worten: "Die europäischen Spitzenpolitiker leben im Moment in einer Traumwelt. Sie haben keine Ahnung von der tatsächlichen Gefahr, die die Einwanderer für uns bedeuten. Wenn wir die alle reinlassen, geht Europa zugrunde." Viele Europäer blicken inzwischen kopfschüttelnd nach Ungarn und fragen sich: Was ist dort eigentlich los?
Klare Botschaft: "Flüchtlinge sind nicht willkommen"
Olaf Leisse überrascht das Bild kaum, das Ungarn derzeit abgibt. Leisse ist Professor für Europäische Studien an der Universität Jena und sagt zu unserem Portal: "Wir haben in Ungarn eine extrem rechtskonservative Regierung. Orbán fiel in den vergangenen Jahren in der EU vor allem dadurch auf, dass er die Pressefreiheit eingeschränkt und Bürgerrechte beschnitten hatte – die aktuelle Haltung in Flüchtlingsfragen passt zu diesem Politikstil."
Zwar reagiert Orbán mit seiner Politik der Abschottung vordergründig auf die Flüchtlingsströme der jüngsten Zeit. Doch Positionen wie diese gegen Flüchtlinge kennen ein Muster: Sie zielen auf Symbolik ab und sollen die eigene Wählerschaft bedienen, erklärt Leisse: "Ausser der regierenden Fidesz-Partei gibt es in Ungarn auch noch rechte Parteien wie Jobbik, die ein Klima der Angst vor Flüchtlingen schüren. Und die Reaktion ist dann natürlich auch eine martialische, nämlich mit einem Zaun ein sichtbares Zeichen gegen Flüchtlinge zu setzen. Noch deutlicher kann man nicht sagen: Flüchtlinge sind bei uns nicht willkommen."
Orbán braucht externe Feinde
Vor allem Jobbik war für Orbán zuletzt gefährlich geworden. In Umfragen sackte seine Fidesz immer weiter ab, verlor sogar die Zwei-Drittel-Mehrheit. "Orbán braucht dringend externe Feinde, weil ihm aufgrund von Korruptions-Meldungen und dem politischen Wettbewerb mit Jobbik die Wähler davonlaufen", schreibt Miklós Haraszti in einem Gastbeitrag für die englische "Huffington Post". Haraszti ist selbst Ungar, war früher OSZE-Beauftragter für die Freiheit der Medien und kennt den Ministerpräsidenten persönlich. Er weiss: "Orbán schafft beständig innenpolitische und internationale Konflikt, um sich als Verteidiger nationaler Interessen zu präsentieren."
Die Flüchtlingskrise kommt für den Politiker da zur rechten Zeit. Zwar ist ein solcher Zustrom an Menschen – mehr als 180.000 kamen in diesem Jahr bisher nach Ungarn – für ein wirtschaftliches schwaches Land mit nur zehn Millionen Einwohnern tatsächlich eine Herausforderung. Doch Orbán geht mit dem Leid von Flüchtlingen auf Stimmenfang und nimmt dabei billigend in Kauf, dass er ein Klima des Hasses schürt. "Orban ist ein autoritärer Charakter. Als Politiker setzt er auf Stärke, hat seine innenpolitische Macht sehr weit ausgebaut und ist auch gewillt, diese Macht bis an die Grenzen der Legalität abzusichern – etwa indem die Meinungsfreiheit einschränkt", sagt Europa-Experte Leisse.
Orbán: Muslime bedrohen Christentum
Besonders auf den Islam hat es der Premier abgesehen. Unlängst riet er davon ab, mit Muslimen zusammenzuleben. Auch im "Bild"-Interview wiederholte er sein Credo – einer dieser typischen Orbán-Sätze: "Durch Zuwanderung werden Muslime in absehbarer Zukunft in Europa in der Mehrheit sein. Wenn Europa einen Wettkampf der Kulturen zulässt, dann werden die Christen verlieren." Auch behauptete Orbán schon, die Flüchtlingskrise sei ein "deutsches Problem".
Doch während ihn Europa dafür rügt, ist sein Kurs in Ungarn alles andere als umstritten: Fast zwei Drittel stützen seine Entscheidungen laut Umfragen, den Sinkflug von Fidesz hat er damit abgefangen.
Budapest lehnt Quote ab
Orbán hat einmal mehr gezeigt, wie sehr er sich auf den Machterhalt versteht. Denn "Ungarn wurde von der Situation überrascht", ist Olaf Leisse überzeugt. "Die Regierung ist hier mit einem Problem konfrontiert, das sich allein aus der geografischen Lage ergibt. Die meisten Flüchtlinge wollen gar nicht nach Ungarn – aber das Land liegt nun mal auf dem Weg." Orbán aber nutzte die Gelegenheit, um aus der Krise politischen Profit zu schlagen.
Zugleich hat er dazu beigetragen, in Flüchtlingsfragen einen Keil in die Europäische Union zu treiben. Dort stehen auf der einen Seite nun Länder wie Frankreich und Deutschland, die verbindliche Quoten zur Verteilung von Flüchtlingen fordern. Auf der anderen Seite stellen sich osteuropäische Staaten quer - mit Ungarn an der Spitze. Am Montag trafen sich die EU-Innenminister darüber zu beraten. Ohne Einigung. Die Entscheidung ist damit erst einmal auf den 8. Oktober verschoben. Genug Zeit für Ungarn, um sich weiter abzuschotten.
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