Arm? Rückständig? Schlecht ausgebildet? Syrer stellen mit rund einem Fünftel die grösste Flüchtlingsgruppe in Deutschland, aber immer noch existieren viele Vorurteile über ihr Land. Wir haben sie einem Realitätscheck unterzogen.

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Die Unterbringung von bis zu einer Million Flüchtlinge im Jahr 2015 ist eine enorme Herausforderung für Deutschland, die Integration wird eine noch grössere sein. "Wie soll das gehen?", fragen nun Skeptiker und Zweifler. Die Asylbewerber seien schliesslich alle arm, rückständig und schlecht ausgebildet – und demnach eine Bürde für den Staat. Solche Pauschalurteile gibt es auch gegenüber den Menschen, die aus Syrien kommen.

Eine nicht repräsentative Befragung von Asylbewerbern des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Jahr 2014 stützt solche Behauptungen nicht. Zwar haben elf Prozent der Befragten gar keine Schule besucht und 24 Prozent lediglich eine Grundschule, aber 15 Prozent genossen eine Hochschulbildung, 16 Prozent waren auf einem Gymnasium und immerhin 35 Prozent auf der Mittelschule.

Kaum Analphabeten unter jungen Syrern

Bei den Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien ergab die Befragung sogar ein noch höheres Bildungsniveau. Rund 21 Prozent gaben an, eine Fachhochschule oder Universität besucht zu haben, 22 Prozent ein Gymnasium und 47 Prozent eine Grund- oder Mittelschule. Nur wenige haben gar keinen Schulabschluss. Zum Vergleich: In Deutschland besassen 2013 rund 27 Prozent die Fachhochschul- oder Hochschulreife.

"Syrien hat spätestens seit den 1960ern im regionalen Vergleich ein ziemlich gutes Bildungssystem. Es herrscht allgemeine Schulpflicht. Universitäten sind kostenlos und es gab einen grossen Austausch mit westlichen Hochschulen", erklärt der Journalist Fabian Köhler, der das Land mehrfach besucht hat. Vor allem in den 2000er Jahren habe die Regierung ihre Investitionen in die Bildung stark ausgebaut. Mit Erfolg: Die Analphabetenquote liegt unter zehn Prozent, bei den 15- bis 24-Jährigen ist sie sogar nur halb so hoch. Das Potenzial ist gross. "Ich staune, wenn ich mich mit Menschen aus Syrien unterhalte, die sechs Monate hier sind, und mit denen ich mich gut auf Deutsch verständigen kann", sagte Tübingens Landrat Joachim Walter (CDU) kürzlich der "FAZ".

In Bezug auf den Vermögensstatus sind Vorurteile gegenüber syrischen Asylbewerbern ebenfalls haltlos: 78 Prozent erklärten gegenüber dem BAMF, aus durchschnittlichen oder sogar sehr guten wirtschaftlichen Verhältnissen zu stammen. Der Grund: Meist können sich nur einkommensstarke Familien die teure Flucht nach Europa leisten, die Armen bleiben zurück oder kratzen gerade so das Geld für ein einzelnes Familienmitglied zusammen.

Tanzen, Kino, Neonreklame

Während viele Syrer heute wegen Krieg und Zerstörung nach Europa kommen, ist es bei wohlhabende Familien längst gang und gäbe, Söhne oder Töchter zur Ausbildung von zuhause fortzuschicken. "Studieren im Ausland ist schon so eine Art Statussymbol in Syrien", erklärt Fabian Köhler. "Viele Mittelklasse-Familien versuchen zumindest ein Kind in die USA, nach Deutschland oder Grossbritannien zu schicken."

Der syrische Diktator Baschar al-Assad und seine Frau Asma lernten sich in London kennen: Er liess sich zum Augenarzt ausbilden, sie arbeitete als Finanzanalystin für die Deutsche Bank und JP Morgan. Auch mit der DDR gab es einen regen Austausch von Studenten. Deshalb trifft man in Syrien noch häufig Ärzte oder Ingenieure, die Deutsch sprechen. Weil Englisch meist ab der ersten Klasse unterrichtet wird, verfügen viele Syrer ebenfalls über gute Englischkenntnisse.

Das heisst aber nicht, dass sie der westlichen Kultur erlegen sind. "Syrer legten lange – vielleicht mehr noch als andere Araber – Wert auf ihre arabische Identität", erklärt Fabian Köhler. "Gleichzeitig gab es in den letzten Jahren starke westliche Einflüsse. Und vor allem unter der Jugend ist die Bewunderung für die westliche Welt gross, auch wenn damit meist die Popkultur gemeint ist." Nach der Jahrtausendwende seien die Veränderungen spürbarer geworden. In Damaskus öffneten erste Clubs, Kinos zeigten westliche Filme, Neonreklame prägte plötzlich ganze Stadtteile. "Trotzdem ist der Einfluss immer noch verhältnismässig gering", weiss Köhler. In der libanesischen Hauptstadt Beirut etwa ist die westliche Kultur bei grossen Teilen der Bevölkerung mittlerweile Mainstream.

In Frauenrechten Vorreiter

Dennoch ist Syrien, dessen Regierung sich als sozialistisch verstand, auch in Fragen der Frauenrechte im arabischen Raum ein Vorreiter. Seit 1949 können Frauen wählen, seit 1963 ist die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau offiziell festgeschrieben, an den Universitäten ist der Frauenanteil hoch. "Und der Staat zwingt keine Frau ein Kopftuch zu tragen", betont Köhler. Eher im Gegenteil: Bis vor drei Jahren war es sogar verboten, im öffentlichen Dienst den Gesichtsschleier Niqab zu tragen.

Dennoch sei die syrische Gesellschaft ziemlich patriarchaisch-konservativ und wie in anderen Ländern der Region werde der Alltag syrischer Frauen stark von Diskriminierung geprägt, vor allem innerhalb der Familie, erklärt der Syrien-Experte.

Nichtsdestotrotz: Die syrische Bevölkerung lebte bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs ganz anders als es sich manche Menschen hierzulande vorstellen. Jedenfalls nicht arm, rückständig und ohne Bildung.

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