Während einige "besorgte Bürger" Flüchtlingsunterkünfte niederbrennen, zeigen ein paar Dortmunder der Welt ein anderes Gesicht von Deutschland. Weil die Stadt mit der Welle an Flüchtlingen überfordert ist, organisieren Freiwillige kurzerhand selbst ein Versorgungssystem. Und alles, was es dazu braucht, ist eine Facebook-Gruppe.
Es ist ein Samstag spätabends, als Özlem Tasel von einer Freundin aus Hamburg ein Hilferuf ereilt. Ein Zug mit Flüchtlingen musste kurzfristig von Hamburg nach Dortmund umgeleitet werden. Die Asylsuchenden sollten vorübergehend dort untergebracht werden. Allerdings wartete am Bahnhof niemand auf sie, um sie in eine Unterkunft zu führen. Nur 25 Minuten hatte die Soziotherapeutin Zeit, um eine Begleitung für die Flüchtlinge zu organisieren.
Über Facebook bat sie Freunde und Bekannte um Hilfe. Nach nur fünf Minuten fanden sich 20 Freiwillige, die die Flüchtlinge am Bahnhof in Empfang nahmen. Doch der Zug war nur der erste von vielen, die in den folgenden Tagen in der Stadt eintreffen sollten: Über Dortmund wurden vorübergehend alle Flüchtlinge für Nordrhein-Westfalen auf den Rest des Bundeslands verteilt. Die Stadtverwaltung war überfordert, die Aufnahmestelle Hacheney nach kürzester Zeit überlaufen. Es musste eine weitere Unterkunft gefunden werden. Mit dem Kulturzentrum Dietrich-Keuning-Haus gab es zwar bald einen geeigneten Ort, doch keinerlei Infrastruktur, um die Flüchtlinge zumindest mit dem Notwendigsten zu versorgen.
Helfer überhäufen Tasel mit Anfragen
Vieler Dortmunder wollten ihre Hilfe anbieten, wussten aber nicht wie. Einige stiessen im Internet auf Tasels Facebook-Post und überhäuften sie mit Anfragen. Um den Freiwilligen eine geeignete Plattform zu bieten, erstellte Tasel gemeinsam mit einem Freund die beiden Facebook-Gruppen "Refugees Welcome Ruhr" und "Trainofhopedo". In den Gruppen erläuterte sie die Situation und gab an, wo welche Hilfe am dringendsten benötigt wurde.
Erst im Nachhinein wurde Tasel bewusst, wie wichtig dieser einfache Schritt war. "Alle Menschen, die helfen wollten, konnten sich endlich vernetzen, kennenlernen, Informationen austauschen und vor allem auf Erfahrungen zurückgreifen", sagt die 43-Jährige im Gespräch mit unserer Redaktion. Nach wenigen Stunden gab es über 200 Anmeldungen in den Facebook-Gruppen, zum Schluss waren es 4.000. Um die Hilfe besser zu koordinieren, wurden eigene Arbeitsteams gebildet, die sich ums Kochen, die Essensausgabe oder die Annahme von Sachspenden kümmerten.
Dank Özlem Tasel und ihren Helfern wurde jeder ankommende Flüchtlinge am Bahnhof in Empfang bekommen, ins Kulturzentrum begleitet und dort so lange versorgt, bis er in die offizielle Aufnahmestelle gebracht werden konnte. Fehlte es an Essen, Decken oder Hygieneartikeln, wurde der Bedarf in den Facebook-Gruppen gepostet - und wenig später trafen Sachspenden in der Unterkunft ein.
"Hier sind wir alle Kellner, Putzfrauen und Organisatoren"
Tasel selbst war täglich stundenlang im Einsatz. Von früh morgens bis spät in die Nacht sprach sie mit den Flüchtlingen, war Ansprechpartnerin für die Freiwilligen und packte mit an. Als Chefin sieht sie sich nicht: "Hier sind wir alle Helfer, wir sind alle Kellner, Putzfrauen, Seelsorger und Organisatoren. Angefangen vom Studenten über die Hausfrau bis hin zu Ärzten und Juristen. Wir sind hier einfach nur Menschen."
Zunächst wusste niemand, wann sich die Situation entspannen würde. Wenn überhaupt, konnten die Helfer nur für die nächsten Stunden planen. Nach rund zwei Wochen kam die Nachricht, dass Köln Dortmund als Anlaufstelle für Flüchtlinge in Nordrhein-Westfalen ablösen sollte. Für Tasel und die vielen Freiwilligen endete eine Zeit, die sie niemals vergessen werden. Obwohl sich die meisten Helfer vorher kaum kannten, wuchsen sie zu einer Art Familie zusammen. Sie packten gemeinsam an, stritten über die besten Herangehensweisen und lagen sich erschöpft in den Armen. Doch vor allem prägte sie die Erfahrungen mit den Flüchtlingen.
Statt sich selbst auf die Schulter zu klopfen, empfindet Tasel tiefe Dankbarkeit - auch dafür, dass sie der Welt eine Seite ihrer Stadt zeigen konnte, die sie mit Stolz erfüllt. Wie gross dieser Stolz ist, fasst sie in einem Facebook-Posting zusammen: "Wir haben Dortmund verändert. Wir haben das Gesicht von Deutschland verändert. Wir haben innerhalb von Europa gezeigt, wie man es besser machen kann."
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