Radikale politische Ideen können zu Veränderungen führen, selbst wenn sie an der Urne abgeschmettert werden. Dies ermöglicht das System der direkten Demokratie. #DearDemocracy hat bei Initianten nachgehakt, die an der Urne verloren haben, sich aber trotzdem als Gewinner sehen.
Die Initiative zur Abschaffung der Schweizer Armee wurde 1989 von zwei Dritteln der Stimmenden abgelehnt. Vor zwei Jahren sagte das Stimmvolk mit 77% Nein zu einem bedingungslosen Grundeinkommen. Im Juni dieses Jahres wurde eine Initiative, die das Finanzsystem auf den Kopf gestellt hätte, mit dem gleichen Nein-Stimmenanteil abgeschmettert.
Während für die einen eine klare Niederlage (nach mathematischen Begriffen) an der Urne eine Verschleuderung von Zeit, materiellen und personellen Ressourcen ist, gilt bei einigen politischen Beobachtern die Initiative für eine Schweiz ohne Armee als die "erfolgreichste Volksinitiative der Schweizer Geschichte überhaupt".
Dafür gibt es gute Gründe.
Politiker und Historiker Josef Lang kann im Nu mindestens vier Errungenschaften des pazifistischen Volksbegehrens nennen: Es führte zu einer radikalen Änderung der öffentlichen Wahrnehmung der Armee, indem es deren Bedeutung während des Kalten Kriegs entlarvte. Es ebnete den Weg für eine wissenschaftliche Neueinschätzung der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg.
Zivildienstreformen
Laut Lang, ein frühes Mitglied der pazifistischen Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA), ebnete die Initiative den Weg für eine Anerkennung des Zivildiensts als Alternative zum obligatorischen Militärdienst. Dieser wurde 1992 an der Urne mit fast 83% Ja-Stimmen angenommen. Schliesslich sei auch die Armeereform und die drastische Senkung der Anzahl Soldaten eine Folge des Volksentscheids von 1989.
Das Resultat war tatsächlich ein Schock für die damalige politische Elite und weite Teile der Gesellschaft, die in der Meinungsbildung des Kalten Kriegs stecken geblieben waren: Angesichts des Abstimmungsresultats von 69% - ein deutliches Resultat nach Schweizer Massstäben – kann man sagen, dass die Schweizer damals mit den Füssen abstimmten.
Der Abstimmung war im ganzen Land eine spektakuläre Kampagne mit zahlreichen hitzigen Debatten voraus gegangen sowie eine Massendemonstration in Form eines Musikfestivals vor den Türen des Schweizer Parlamentsgebäudes.
"Wir brachten die Kampagne auf die Strasse und fanden den Gefallen eines Teils der Gesellschaft", sagt Lang.
Die pazifistische Gruppe ist 35 Jahre nach ihrer Gründung immer noch eine politische Kraft, mit der gerechnet werden muss.
Lang ist einer von diesen Aktivisten, die in der Schweizer Politik auf nationaler, kantonaler oder lokaler Ebene Karriere machten. Der ehemalige Parlamentarier der Grünen Partei weist darauf hin, dass viele andere Mitglieder der pazifistischen Gruppe heute bei Nicht-Regierungsorganisationen tätig seien, weil sie den Ruf von erfahrenen und versierten Organisatoren und Kampagnenleitern hätten.
Vorbildfunktion
Ein weiteres Beispiel für die Erfolgsgeschichte einer abgelehnten Initiative ist jene für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens.
Für Daniel Häni, ein Basler Unternehmer und einer der Ko-Initianten, war die Ablehnung von 76,9% an der Urne keine eigentliche Niederlage.
"In einer Demokratie geht es nicht nur darum, zu gewinnen oder zu verlieren. Es geht um Debatten und Ideen, die eigenen und jene der anderen", sagt er.
Die pazifistische Bewegung von 1989 diente ihm als Modell. Sie zeigte, wie es möglich ist, einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel auszulösen.
Häni weist auf eine Umfrage von 2016 hin, bei der zwei von drei Befragten sagten, dass sie mit einer weiteren Abstimmung über dieses Thema zu gegebener Zeit rechneten. "Das zeigt, dass die Idee für einen Kulturwandel auf dem Tisch bleibt."
Pilotprojekt
Tatsächlich sind in mehreren Ländern Projekte zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens geplant oder bereits unterwegs, wenn auch nur im kleinen Rahmen und für begrenzte Zeit.
Die kleine Schweizer Stadt Rheinau ist nur ein Beispiel dafür. Es gibt Bestrebungen in anderen Ländern, öffentliche Abstimmungen über ähnliche Vorschläge zu organisieren.
Laut Häni, der in den Nachbarländern Deutschland und Österreich regelmässig zu Diskussionen eingeladen wird, ist das Interesse für ein Grundeinkommen nach wie vor gross. Der andere Ko-Initiant, Enno Schmidt, tourte mit dem Thema kürzlich durch Europa, Asien und Nordamerika.
Häni rechnet damit, dass das Thema in den Kampagnen für die amerikanische Präsidentschaftswahl 2020 eine Rolle spielen wird, falls Facebook-Gründer und Philanthrop Mark Zuckerberg als bekennender Verfechter eines Grundeinkommens ins Rennen steigen sollte.
"Unsere Initiative hat die weltweite Debatte stimuliert", sagt er. Laut dem Netzwerk BIEN werden verschiedene Varianten von Grundeinkommen in 26 Ländern in Betracht gezogen.
Internationales Netzwerk
Die Verfechter der sogenannten Vollgeld-Initiative, ein radikaler Vorschlag für eine Reform des Schweizer Finanzsystems, sind ebenfalls Teil eines internationalen Netzwerks von Gleichgesinnten.
Maurizio Degiacomi, ein ehemaliges Mitglied des Kampagnenteams, betrachtet die deutliche Ablehnung der Initiative im Juni dieses Jahres ebenfalls nicht als entmutigende Niederlage. Im Gegenteil: "Renommierte internationale Medien und spezialisierte Blogs berichteten über die Initiative und sorgten für öffentliche Aufmerksamkeit für die Idee dahinter", sagt er.
In der Schweiz will der Verein Monetäre Modernisierung (MoMo) für eine Reform des Finanzsektors weiterkämpfen. In welcher Form, sei noch nicht klar.
Die Initianten wollen das Abstimmungsresultat, ihre eigene Strategie sowie Stärken und Schwächen der Kampagne in aller Ruhe analysieren und neue Wege erkunden.
MoMo-Direktor Degiacomi sagt, dass das Team von Freiwilligen und das Komitee – Personen unterschiedlichster gesellschaftlicher Herkunft – eine gewisse Erholungszeit benötigten. Schliesslich habe die Kampagne lange gedauert und sei mit beschränkten finanziellen Mitteln ausgetragen worden.
Das Beispiel Vollgeld-Initiative sowie andere neuartige Ideen zeigen, dass radikale Vorschläge im Schweizer System der direkten Demokratie im ersten Anlauf selten angenommen werden. Vielleicht braucht es einfach mehr Zeit, zusätzliche Stimmende dafür zu gewinnen.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler),
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