Wieder ist ein Schlachthof das Zentrum eines Corona-Ausbruchs. Der Fall zeigt auch die soziale Dimension der Virus-Pandemie. Experten äussern Zweifel an den Erklärungen des Tönnies-Konzerns.
Liegt es an den kühlen Räumen im Schlachthof? Oder sind es vielmehr die Arbeitsbedingungen und die Unterkünfte der Mitarbeiter? Nach dem Corona-Ausbruch beim Branchen-Riesen Tönnies im Kreis Gütersloh stellen sich viele Fragen - immer lauter auch die nach der Verantwortung der Fleisch-Konzerne im Land. Deutschlands Marktführer bei der Schlachtung von Schweinen hatte am Mittwoch einen deutlichen Anstieg der Infiziertenzahl unter den Beschäftigten in Rheda-Wiedenbrück vermeldet - am Donnerstag waren es nun schon mindestens 730. Für rund 7000 Menschen wurde eine Quarantäne verfügt, Schulen und Kitas im Kreis wurden geschlossen. Bis zu den Sommerferien in NRW - Start 29. Juni (letzter Schultag 26.6.) - wird es nur eine Notbetreuung geben.
HEIMATURLAUB ALS URSACHE?
Das Unternehmen Tönnies behauptet, dass Beschäftigte das Virus etwa aus Heimaturlauben in Osteuropa mitgebracht haben könnten. Einer Expertin für Infektionskrankheiten zufolge ist es jedoch extrem unwahrscheinlich", dass Hunderte Corona-Fällen auf Familienbesuche am Wochenende zuvor zurückgehen. "Die Inkubationszeit beträgt im Mittel fünf Tage, so dass ein Wochenendbesuch kaum so eine grosse Anzahl an Personen erklären kann", sagte Isabella Eckerle, Leiterin der Forschungsgruppe Emerging Viruses in der Abteilung für Infektionskrankheiten der Universität Genf.
Für seinen Satz über Arbeiter aus Rumänien und Bulgarien geriet NRW-Ministerpräsident
Ein weiterer Faktor für die Verbreitung sollen laut Tönnies die kalten Temperaturen in den Zerlegebereichen sein. Klar ist: Temperatur und Luftfeuchtigkeit haben Einfluss darauf, wie rasch Tröpfchen verdunsten. Zudem wird Sars-CoV-2 nach derzeitigem Kenntnisstand auch über Aerosole - winzige Tröpfchenkerne aus Flüssigkeit und Partikeln wie Viren - übertragen. Wie infektiös diese unter Kühlhausbedingungen sind, lässt sich aber noch nicht sagen.
RUF NACH STRENGEREN REGELN
Bundesagrarministerin Julia Klöckner dringt angesichts des heftigen Ausbruchs auf Konsequenzen: "Hunderte von Infektionen in einem Betrieb. Diese Zustände sind nicht haltbar", sagte die CDU-Politikerin am Donnerstag. Es sei richtig, Infektionsursachen am Arbeitsplatz und in Unterkünften nun gründlich zu untersuchen.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat angesichts des erneuten Corona-Ausbruchs in der Fleischwirtschaft seine Pläne für Gesetzesverschärfungen untermauert. Im Sommer wolle er ein Gesetz vorlegen, das eine digitale Erfassung der Arbeitszeit in der Fleischindustrie vorschreibt. Zudem solle es an "ein Grundübel" gehen, indem Werkverträge in der Branche untersagt werden. Damit solle die Verantwortung für gute Bedingungen bei der Arbeit, aber auch in Unterkünften und Transporten klar werden.
Die Arbeitsbedingungen in Schlachtbetrieben mit Subunternehmern und Sammelunterkünften mit vielen osteuropäischen Beschäftigten stehen schon lange in der Kritik. Das Bundeskabinett hatte im Mai Eckpunkte für verschärfte Arbeitsschutzvorschriften für die Fleischindustrie beschlossen. Das Gesetzgebungsverfahren steht noch aus.
Der Corona-Ausbruch führte unterdessen auch zur nächsten Runde des schwelenden Streits der Inhaber: Robert Tönnies forderte in einem Brief den Rücktritt seines Onkels Clemens Tönnies aus der Geschäftsleitung. In dem Schreiben vom Mittwoch wirft er der Geschäftsleitung und dem Beirat des Konzerns unverantwortliches Handeln und die Gefährdung des Unternehmens und der Bevölkerung vor. Robert Tönnies (42 Jahre) hält wie sein Onkel Clemens (64) 50 Prozent an dem Unternehmen. Seit Jahren streiten beide um Führung und Ausrichtung des Konzerns.
CORONA TRIFFT DIE SCHWACHEN
Der aktuelle Fall in NRW ist der grösste von mehreren Aufsehen erregenden Ausbrüchen der vergangenen Tage. Erst kürzlich wurden in Berlin-Neukölln mehrere Wohnhäuser unter Quarantäne gestellt. Gleiches gilt für einen Gebäudekomplex in Göttingen mit 700 Bewohnern, wo etwa 100 neue Infektionen registriert wurden.
"Die Pandemie hat eine soziale Dimension und Schieflage, gegen die die Bundesregierung viel stärker ankämpfen muss", sagte die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). "Die Bundesregierung muss einen Plan vorlegen, wie die wirtschaftlich Schwächsten in unserer Gesellschaft nicht zu Kranken werden."
SPD-Chef Norbert Walter-Borjans sagte dem RND: "Corona ist eine riesige Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. Aber es gibt keinen Zweifel, dass auch hierzulande die gesundheitlichen Risiken für Menschen mit geringerem Einkommen de facto grösser sind - schon allein deshalb, weil sie in beengteren Verhältnissen leben und arbeiten." (br/dpa) © dpa
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