Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in seiner Weihnachtsansprache die Deutschen zu mehr Miteinander-Reden und zum demokratischen Streiten aufgerufen - im Interesse der Gesellschaft und des Landes.

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Die Rede des Bundespräsidenten im Wortlaut

"Frohe Weihnachten Ihnen allen!

Ich hoffe, Sie finden an den Feiertagen ein bisschen mehr von dem, wovon es sonst im Jahr zu wenig gibt: Zeit. Zeit zum Durchatmen. Zum Lesen vielleicht, zum Entspannen oder einfach mal zum Ausschlafen. Zeit auch zum Nachdenken – über das, was wichtig war in diesem Jahr, und was wichtig wird im kommenden. Und, auch das gehört zu Weihnachten: Endlich Zeit zum Reden! Mit unseren Liebsten daheim natürlich, aber gerade auch mit denen, die wir im Trubel des Jahres vernachlässigt haben. Zeit für ein Telefonat mit der alten Schulfreundin. Für einen Kaffee mit den Nachbarn.

Bei vielen von uns kommt zum Weihnachtsessen die Familie – vielleicht auch wieder die ganz bestimmten Verwandten, bei denen man schon vorher weiss, dass wir uns über Politik in die Haare kriegen. Ja, es wird nicht nur gesungen an Weihnachten, sondern manchmal auch gestritten.

Ich finde: Wie gut, dass wir diskutieren; wie gut, dass wir miteinander reden! Wenn ich mir für unser Land eins wünschen darf, dann: mehr davon! Ich habe den Eindruck, wir Deutsche sprechen immer seltener miteinander. Und noch seltener hören wir einander zu. Wo immer man hinschaut, erst recht in den Sozialen Medien: Da wird gegiftet, da ist Lärm und tägliche Empörung.

Und mehr noch als der Lärm von manchen besorgt mich das Schweigen von vielen anderen. Immer mehr Menschen ziehen sich zurück unter ihresgleichen, zurück in die eigene Blase, wo alle immer einer Meinung sind – auch einer Meinung darüber, wer nicht dazugehört. Nur, so sehr wir uns über andere ärgern oder sie uns gleich ganz wegwünschen, eines gilt auch morgen noch: Wir alle gehören zu diesem Land – unabhängig von Herkunft oder Hautfarbe, von Lebensanschauung oder Lieblingsmannschaft.

Das ist das Schöne und das Anstrengende an der Demokratie zugleich. Wir müssen wieder lernen, zu streiten, ohne Schaum vorm Mund, und lernen, unsere Unterschiede auszuhalten. Wer Streit hat, kann sich auch wieder zusammenraufen. Das kennen wir von Weihnachten mit der Familie. Aber wer gar nicht spricht und erst recht nicht zuhört, kommt Lösungen kein Stück näher. Sprachlosigkeit heisst Stillstand.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir haben es, Sie haben es in der Hand: Sprechen Sie mit Menschen, die nicht Ihrer Meinung sind! Sprechen Sie ganz bewusst mal mit jemandem, über den Sie vielleicht schon eine Meinung haben, mit dem Sie aber sonst kein Wort gewechselt hätten. Ein Versuch ist das wert. Das ist mein Weihnachtswunsch an Sie. Und das ist auch mein eigener Vorsatz für das nächste Jahr. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass unsere Gesellschaft mit sich im Gespräch bleibt!

Was passiert, wenn Gesellschaften auseinanderdriften, wenn eine Seite mit der anderen kaum noch reden kann, ohne dass die Fetzen fliegen – das sehen wir in der Welt um uns herum. Wir haben brennende Barrikaden in Paris erlebt, tiefe politische Gräben in den USA, Sorgen in Grossbritannien vor dem Brexit, Zerreissproben für Europa in Ungarn, Italien und anderswo. Und wir, in der Mitte Europas, sind natürlich nicht geschützt gegen solche Entwicklungen. Auch bei uns im Land gibt es Ungewissheit, gibt es Ängste, gibt es Wut.

Und vielleicht ist all das auch ein Thema bei Ihnen heute Abend zuhause. Umso deutlicher will ich Ihnen sagen, was ich als Bundespräsident jeden Tag erfahre: Unsere Demokratie ist stark! Millionen Menschen sorgen dafür. Sie sorgen dafür. Viele von Ihnen engagieren sich, in der Nachbarschaft, in Vereinen oder im Stadtrat. Im Haupt- oder Ehrenamt. Auch jetzt gerade übrigens: in Krankenhäusern oder Polizeiwachen, bei der Feuerwehr oder im Altenheim, im In- und im Ausland. Allen, die heute Abend ihren Dienst leisten, danke ich ganz besonders herzlich.

Sie machen uns stark! Unsere Demokratie ist immer so stark, wie wir sie machen. Sie baut darauf, dass wir unsere Meinung sagen, für unsere Interessen streiten. Und sie setzt uns der ständigen Gefahr aus, dass auch der andere mal Recht haben könnte. Am Ende einen Kompromiss zu finden, das ist keine Schwäche, sondern das zeichnet uns aus! Die Fähigkeit zum Kompromiss ist die Stärke der Demokratie.Also: Trauen wir uns doch! Und vertrauen wir diesem Land! Es ist unser Land, es ist unsere Demokratie.

Ich bin zuversichtlich für das, was kommt im nächsten Jahr. Und Zuversicht wünsche ich auch Ihnen ganz persönlich. Gesegnete Weihnachten!"  © dpa

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