Die geopolitische Ordnung ist zurzeit stark in Bewegung und hat Deutschland und die EU überrascht. Mehr als 20 Jahre haben sich EU und Mercosur Zeit gelassen, ein Freihandelsabkommen auf den Weg zu bringen – viele Politiker sehen nun Nachverhandlungsbedarf, obwohl es noch gar nicht ratifiziert ist. Das bräuchte jedoch Zeit, die zumindest die EU momentan nicht zu haben scheint, will sie nicht wirtschaftlich aussen vor bleiben.
Robert Habeck und Cem Ödzemir sind zurück von ihrer Abenteuerreise, da wollte nun Brasiliens
Eines aber bleibt: Mit dem Wie seiner Reise wird er zeigen, wie man auftreten muss, um Eindruck zu hinterlassen und die Ernsthaftigkeit seines Tuns zu unterstreichen. Mit Lula will eine 240-köpfige Delegation mit nach Peking kommen. Neben mehr als 30 Ministern, Senatoren und Abgeordneten auch 120 Wirtschaftsvertreter, überwiegend aus den Bereichen Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion.
Krankheit hin oder her, es geht um viel für Lula: Er muss schnell für Wachstum sorgen, um die grossen Probleme Brasiliens – Nahrungsunsicherheit für Millionen Menschen, Inflation, Arbeitslosigkeit – in den Griff bekommen. China ist inzwischen der grösste Handelspartner Brasiliens, mit einem Volumen von 125 Milliarden Reais, rund 25 Milliarden Euro.
So viel Eindruck würde die deutsche Politik auch gerne in Brasilia machen, aber deren Taktik erscheint im Vergleich dazu deutlich dezenter. Erst kam Kanzler Olaf Scholz, dann reisten Wirtschaftsminister
Verhältnis war über Jahre praktisch eingeschlafen
Eine jahrelange Rezession, ein umstrittenes Amtsenthebungsverfahren gegen Ex-Präsidentin Dilma Rousseff und später die Wahl des rechtsradikalen Jair Bolsonaro hatten Brasilien seit 2015 wenig attraktiv erscheinen lassen. Das ist nun anders. Grund dafür ist der Ukraine-Krieg und eine Neuausrichtung der deutschen Energiepolitik; aber auch der Klimaschutz macht Brasilien plötzlich wieder interessant.
Das Land ist nicht nur ausgesprochen rohstoffreich, wobei demnächst Lithium in die Angebotspalette aufgenommen werden dürfte, sondern hat mit dem Regenwald in der Amazonasregion einen Naturraum, der bei Überlegungen zum Klimaschutz immer mehr in den Fokus rückt.
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Etwas aus dem Fokus gefallen war ein Freihandelsabkommen, an dem der südamerikanische Staatenbund Mercosur und die EU mehr als 20 Jahre lang herumverhandelten. 1999 begannen die ersten Verhandlungen, eine andere Zeit. In diesem Jahr wurde Hugo Chavez Präsident in Venezuela, Oscar Lafontaine trat von seinem Ministeramt zurück, Wladimir Putin wurde russischer Ministerpräsident und der Song "Mambo No. 5" war elf Wochen lang an der Spitze der deutschen Hitparade.
Lula öffnet einen neuen Korridor für das Abkommen
Doch nun ist es wieder auf dem Tisch. Bolsonaro liess es liegen. Aussenpolitik interessierte ihn nur, wenn sie ihm innenpolitisch nutzte. Aber mit Lula, seit Januar im Amt, könnte das anders werden. Schon im Wahlkampf kündigte er an, das Abkommen rasch verabschieden zu wollen, einige Nachjustierungen inklusive.
In Europa und Deutschland ist man sich uneins, auch wenn inzwischen zu vernehmen ist, dass das Abkommen bis Juni durchgewunken werden soll. Wie, das ist indes noch unklar, denn nach wie vor gibt es Bedenken und Kritik. Gut möglich also, dass eine Art Zusatzvereinbarung formuliert wird, die zumindest einen Teil der strittigen Punkte noch ausräumen soll. Die Verschiebung der Reise Lulas könnte diesem Vorhaben sogar noch entgegenkommen.
Franzosen und Landwirte fürchten sich vor einer Rindfleischschwemme, obwohl das Thema im Vertrag vergleichsweise gering ist. Die Industrie fürchtet, dass für sie auf dem südamerikanischen Markt alle Türen geschlossen sind beziehungsweise alle strategischen Nischen durch China besetzt sein werden, wenn das Abkommen nicht bald kommt. Eine durchaus berechtigte und nachvollziehbare Sorge, wenn man die brasilianischen Bemühungen in Richtung China sieht.
Ratifizierung nur mit Nachverhandlung
Wieder andere bemängeln an dem Abkommen, dass es dermassen aus der Zeit gefallen ist, dass es ohne Nachverhandlungen gar nicht geht. Seit 1999 hat sich in der Welt in Sachen Umwelt- oder Arbeitsschutz, Menschenrechte und Lieferketten eine ganze Menge getan. Der Berliner Politologe Mario Schenk hat das Abkommen eingehend analysiert und ist erstaunt: "Bisher ist der Handel zwischen EU und Mercosur sehr ungleich nach Art, Einsatz an Arbeitskraft und volkswirtschaftlichem Gewinn."
"Der Süden exportiert Primärgüter wie Soja, der Norden hochwertige Industriegüter. Das geplante Abkommen zementiert das ungleiche Verhältnis an Wertschöpfung und Produktion", ist sein Fazit. Zudem enthalte es keine nennenswerten durchsetzungsfähigen Vorgaben für Umwelt- und Klimaschutz, Menschen- und Arbeitsrecht. "Es ist sogar ein Vorrang der Investorenrechte geplant."
Die grüne EU-Abgeordnete Anna Cavazzini befürchtet, dass das Abkommen den Druck auf die Entwaldung in Brasilien erhöhen könnte. "Das Abkommen wird zu mehr Exporten von Produkten führen, die traditionell zur Entwaldung in den Mercosur-Ländern beitragen", sagt sie auf Anfrage.
"In der jetzigen Version, gibt es ausser einem Expertenbericht keine wirkliche Handhabe, sollten die Entwaldungszahlen wieder in die Höhe schnellen." Genau dieses künftig zu verhindern, "muss für die neue brasilianische Regierung, aber auch für die internationale Staatengemeinschaft Priorität haben", sagt Cavazzini.
Rinderexport gleich Entwaldung?
Der Zusammenhang zwischen Entwaldung und Viehproduktion existiert durchaus, wie eine Studie von Greenpeace schon 2009 zeigte. Eine 1:1-Kausalität ist allerdings etwas zu kurz gedacht. Denn schon heute hätte die brasilianische Landwirtschaft genügend Flächen zur Verfügung, ihre Produktion zu steigern, weitere Entwaldung bräuchte es dafür nicht.
Diese dienen eher dem Landgrabbing. Flächen, die dem Staat gehören oder in Schutzgebieten indigener Völker liegen, wurden vor allem unter Bolsonaro illegal gerodet, besetzt und somit potenziell für die Produktionsausweitung gesichert . Gesetze, die diese Praxis und das Land anschliessend legalisiert hätten, waren unter Bolsonaro bereits in Arbeit.
"Es dürfen keine neuen Flächen mehr für die Landwirtschaft gerodet werden", sagt die EU-Abgeordnete und trifft damit genau den Ansatz, den auch Carlos Nobre, einer der wissenschaftlichen Berater Lulas in Sachen Regenwaldschutz anstrebt. Ihm schwebt eine nachhaltigere "Ökonomie des stehenden Waldes" vor. Doch dafür brauche es zunächst eines: Die Kriminalität in der Region bekämpfen.
Nachverhandlung kostet Zeit, die die EU eigentlich nicht mehr hat
Manuel Gava, Bundestagsabgeordneter der SPD und Mitglied der deutsch-brasilianischen Parlamentariergruppe, hält eine schnellstmögliche Neuausrichtung der EU-Lateinamerika-Handelspolitik für geboten. "Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass wir uns für die konditionale Ratifizierung des Mercosur-Abkommens einsetzen, sofern vonseiten der Partnerländer umsetzbare und überprüfbare, rechtlich verbindliche Verpflichtungen zum Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsschutz eingegangen würden", sagt Gava auf Anfrage.
Eine Nachverhandlung, wie sie Cavazzini für notwendig hält, sieht er kritisch. Die würde "ein neues Verhandlungsmandat für die EU-Kommission erfordern und die Unterzeichnung weit in die Zukunft verschieben."
Thomas Silberhorn (CSU), Vorsitzender der deutsch-brasilianischen Parlamentariergruppe im Bundestag, plädiert für eine Entscheidung, damit Deutschland und die EU, gerade mit Blick auf China, nicht strategisch weiter ins Hintertreffen geraten. "Wir müssen und können mehr anbieten, weil wir auf Partnerschaften setzen und keine Abhängigkeiten schaffen. Das Mercosur-Abkommen ist reif für die Ratifikation. Neuverhandlungen würden zu jahrelangem Stillstand führen", befürchtet Silberhorn. Die Ratifikation des Abkommens werde dagegen neue Dynamik entfachen, in der alle weiteren Fragen leichter zu lösen seien.
Wie politisch umkämpft das Abkommen inzwischen ist, soll ein Dokument beweisen, das der österreichischen Organisation "Anders Handeln" zugespielt worden sein soll.
Ein einfaches Word-Dokument, ohne erkennbaren Hinweis auf Herkunft oder Absender, das die Organisation in einem Radio-Interview allerdings als "glaubwürdig und authentisch" bewertete. Das neunseitige Papier liest sich wie eine Argumentationshilfe oder eine Handlungsanweisung für Greenwashing, um das Handelsabkommen gerade mit den geäusserten Kritiken an Sozial- und Umweltstandards in Einklang zu bringen. Denn gerade bei diesen Punkten hat das Abkommen noch Nachholbedarf.
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