In Syrien und im Jemen toben Bürgerkriege, in Gaza fallen Bomben, die Situation im Irak ist fragil - und doch spricht ein Nahost-Experte von einer historischen Chance auf Frieden in der Region. Wie passt das zusammen?
Jeden Tag stellt die ARD die "Tagesschau"-Folge von vor 20 Jahren ins Netz. Dort begegnen einem vergessene Debatten, verblasste Gesichter - und mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Bericht von einem Krisenherd im Nahen Osten. Terror, Krieg, Flucht - die Themen sind erschreckend vertraut.
Nicht erst seit 20, sondern seit weit über 30 Jahren kommt die Region nicht zur Ruhe. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist festgefahren. Im Irak sind noch immer Zellen der Terrormiliz "Islamischer Staat" aktiv. In Syrien wird im achten Jahr gekämpft, im Jemen tobt ein blutiger Bürgerkrieg.
So düster die Situation ist, so düster sind meist auch die Prognosen, die Experten für diese Region abgeben. Anders Daniel Gerlach. In Kürze erscheint sein Buch "Der Nahe Osten geht nicht unter - die arabische Welt vor ihrer historischen Chance."
Gerlach zählt zu den renommierten Orientalisten. Namhafte Medien bedienen sich häufig seiner Einschätzung. Er hat unter anderem für das ZDF, die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und "Die Welt" gearbeitet. Seine Analyse der Gemengelage in Syrien vertreibt die Bundeszentrale für politische Bildung. Seit über 20 Jahren gibt er das Fachmagazin "Zenith - Zeitschrift für den Orient" heraus. Unzählige Male hat er die Region bereist.
"Religion hat sich als Kriegsgrund diskreditiert"
An einem Abend spricht Gerlach in der Evangelischen Stadtakademie in München. Er kommt gerade aus dem Irak zurück. Er hat die rund 100 Kilometer südwestlich von Mossul gelegene Ruinenstätte Hatra besucht und von dort Eindrücke mitgebracht, mit denen er seine These von der historischen Chance untermauert.
2015 hatte der sogenannte Islamische Staat die über 2.000 Jahre alte Ruinenstadt, die zum Unesco-Weltkulturerbe zählt, eingenommen. Mit Hämmern und schwerem Gerät machten sich die Islamisten über Tempelmauern und Skulpturen her. Man befürchtete das Schlimmste, doch laut Gerlach hält sich die Zerstörung in Grenzen. "Ich empfinde es als hoffnungsvolles Zeichen, dass diese Stätte die IS-Herrschaft überlebt hat", sagt er.
Nicht nur für den Tourismus berge Hatra enormes Potenzial. Auch hat die Stätte aus seiner Sicht das Zeug dazu, den Irakern eine gemeinsame Identität zu stiften - einem Volk, das religiös und ethnisch extrem gespalten ist: Schiiten gegen Sunniten gegen Christen gegen Jesiden. Kurden gegen Araber gegen Assyrer gegen Armenier.
Hier zieht Gerlach eine Parallele zwischen dem Irak und anderen Ländern der Region, wo die Zugehörigkeit zu Volksgruppen und Religionen ebenso ein Treiber der Gewalt ist, wenn auch nicht unbedingt der Auslöser: Jüdische Israelis gegen muslimische Palästinenser. Schiiten mit Alawiten gegen Sunniten in Syrien. Die schiitischen Huthi-Rebellen gegen die sunnitisch dominierte Regierung im Jemen.
Wo da jetzt die positive Botschaft ist? "Religion hat sich als Kriegsgrund diskreditiert", ist Gerlach überzeugt. "Viele Menschen sind so müde, dass es in Zukunft schwer wird, sie mit religiösem Fanatismus aufzuhetzen", sagt er. Darin liege eine historische Chance auf Friede und Versöhnung im Nahen Osten.
Daniel Gerlach setzt Hoffnung in bürgerliche Elite
Als Beispiel zieht er Syrien heran. Dort hätten Stammesvertreter, Geistliche verschiedener Religionsgemeinschaften und Mitglieder der städtischen Bourgeoisie eine Charta unterzeichnet, wonach sie sich gegenseitig von der Schuld am Krieg freisprechen. "Für einen Beduinenstamm, in dessen Rechtsverständnis Vergeltung eine rechtmässige Massnahme ist, ist das ein enormer Schritt", sagt Gerlach.
Nicht nur in Syrien setzt er grosse Hoffnung in die bürgerliche Elite, auch anderswo. Beispiel Irak: Seit dem Palästinakrieg 1948, in dem das Land auf der Seite anderer arabischer Staaten gegen Israel gekämpft hat, stehen sich der Irak und Israel feindlich gegenüber. In der irakischen Elite, gerade bei den Schiiten, sei es derzeit jedoch geradezu angesagt, sich für das Judentum zu interessieren.
Mehrere Sprachen zu sprechen und Beziehungen zu Verwandten und Freunden in allen Erdteilen zu pflegen, sei in gewissen Kreisen gang und gäbe. "Wir vergessen häufig die unglaubliche Weltläufigkeit, die die arabische Welt lange ausgezeichnet hat."
Daniel Gerlach weiss, dass seine hoffnungsvolle Sicht auf die Lage im Nahen Osten Skepsis hervorruft. Ohne vom Publikum oder der Moderatorin danach gefragt zu werden, verteidigt er sich. "Ich verwende keine alternativen Fakten. Meine Analyse basiert auf denselben Fakten wie die der Pessimisten", betont er. "Ich wehre mich nur dagegen, negative Prognosen als realistisch, positive hingegen als Träumerei einzustufen."
Ein Westfälischer Friede für den Nahen Osten?
Tatsächlich ist es in der Geschichte schon einmal gelungen ist, einen Ausweg aus einem 30 Jahre andauernden Krieg zu finden, der von religiösem Fanatismus geprägt war, in den sich unzählige Akteure eingemischt haben, der unfassbares Leid über einen halben Kontinent gebracht und Millionen Menschen in die Flucht trieb hat.
Die Rede ist vom Dreissigjährigen Krieg (1618-1648). Viele Beobachter haben die Parallele zur heutigen Situation im Nahen Osten gezogen, unter anderem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Staffan de Mistura, der UN-Sondergesandte für Syrien.
Das Forum für Geopolitik der Universität Cambridge hat ein "Labor des Weltaufbaus" gegründet, das sich mit der Frage beschäftigt, inwiefern die Erfahrung aus dem Europa des 17. Jahrhunderts zu einer Lösung der Konflikte im Nahen Osten beitragen können. Brendan Simms, der Direktor der Einrichtung, schrieb 2017 in einem Beitrag für die "Zeit", die "Grundgedanken" des Westfälischen Friedens seien im Nahen Osten willkommen: "den Friedenskongress für alle Beteiligten zu öffnen, theologische Wahrheitsdispute auszuklammern [...] und vor allem eine 'dritte Partei' ins Leben zu rufen, eine Gruppe von weniger mächtigen Akteuren, einschliesslich einiger der Hauptopfer des Konflikts, die die Verhandlungen in die Hand nehmen und den Lösungsprozess vorantreiben." "Eine Gruppe von weniger mächtigen Akteuren"? Es könnte die Rolle der von Gerlach genannten Eliten sein.
Verwendete Quellen:
- Buchvorstellung mit Daniel Gerlach am 24. Januar 2019 in München, organisiert von der Friedrich Ebert Stiftung in Kooperation mit der Evangelischen Stadtakademie München und dem Deutsch-Syrischen Verein.
- "Zeit" vom 10. Mai 2017: "Ein Westfälischer Friede für Nahost"
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