Jacques Delors war ein grosser Vordenker Europas. Mit Helmut Kohl und François Mitterrand trieb der Franzose die Einigung des Kontinents voran. Nun ist der Visionär im hohen Alter gestorben.

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Der Franzose Jacques Delors gehörte zum sehr kleinen Kreis von Politikern, die zu den "Vätern" der europäischen Einigung gezählt werden. In den vergangenen Jahren meldete er sich zu aktuellen politischen Fragen nur noch selten zu Wort, nahm aber bis ins hohe Alter Anteil an den scheinbar endlosen Krisen der Europäischen Union.

In der Corona-Pandemie warnte er vor fehlender Solidarität, die eine "tödliche Gefahr für die EU" darstelle. Jetzt ist der frühere Präsident der EU-Kommission im Alter von 98 Jahren gestorben.

Delors, der am 20. Juli 1925 in Paris geboren wurde, gehe als grosser Franzose und grosser Europäer als einer der Erbauer "unseres Europas" in die Geschichte ein, schrieb EU-Ratspräsident Charles Michel am Mittwoch zum Tod des Franzosen auf der Online-Plattform X. Zuvor hatte die französische Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf Delors' Tochter Martine Aubry berichtet, dass ihr Vater gestorben sei.

Bilderbuchkarriere in Frankreich

In seinem Heimatland legte der aus dem Osten der französischen Hauptstadt stammende Delors eine Bilderbuchkarriere hin, vom Angestellten der französischen Nationalbank bis hin zum Minister. Als er 1981 vom damaligen sozialistischen Präsidenten François Mitterrand ins Finanzressort berufen wurde, traf ihn das weitgehend unerwartet. "Ich wusste nichts", schrieb er später in seinen Erinnerungen.

In "Europas Hauptstadt" wirkte Delors dann als Baumeister des europäischen Binnenmarktes. Er legte mit anderen das Fundament der Europäischen Währungsunion.

"Europa braucht nicht nur Feuerwehrleute, sondern auch Architekten", sagte Delors einmal. Der Sozialist hatte Glück an der Spitze der EU-Behörde. Denn er bekam Rückendeckung von Mitterrand und vom deutschen Kanzler Helmut Kohl.

"Nach dem Fall der Berliner Mauer begriff das Trio schnell, dass die deutsche Wiedervereinigung einhergehen musste mit einer neuen Etappe der Integration des Kontinents: der Schaffung der Währungsunion", bilanzierte die angesehene Tageszeitung "Le Monde" einmal.

In Delors' Brüsseler Amtszeit von 1985 bis 1995 machte der Vertrag von Maastricht die Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union. Der "Delors-Bericht" wies den Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion.

Kontroversen mit Margaret Thatcher

Während der Ostblock zusammenbrach und die Frage der deutschen Wiedervereinigung alte Ressentiments aufkeimen liess, zimmerte Delors an der Vertiefung der Zusammenarbeit. Heftige Kontroversen gab es damals mit Grossbritanniens "Eiserner Lady", Margaret Thatcher (1925-2013).

In Brüssel versuchte der nüchtern wirkende Delors auch, die "intellektuelle Kontrolle" über die Treffen der europäischen Staats- und Regierungschef zu erlangen.

Schaffte er das? Nach eigenem Bekunden ja, denn sein Rezept waren kurze Merkzettel für die Chefs, "drei bis fünf Seiten, mit einer Zahl begrenzter, aber wichtiger Punkte zum Entscheiden". 2015, zwei Jahrzehnte nach seinem Ausscheiden, ernannte ihn ein EU-Gipfel zum "Ehrenbürger Europas".

Delors warnte deutlich vor Konstruktionsfehlern der Gemeinschaftswährung: Es fehle der zweite Pfeiler, nämlich die gemeinsame Wirtschaftspolitik. Der ehemalige Spitzenpolitiker bewies oft Weitsicht: In einem Interview legte er schon 2012 - also lange vor dem Brexit-Votum der Briten - einen Austritt Grossbritanniens aus der EU nahe.

Nach seinem Abschied von der EU entschied Delors sich gegen eine Kandidatur für die französische Präsidentschaft - obwohl er gute Chancen gehabt hätte. Die herbe Enttäuschung darüber bei einem Teil der Franzosen prägte Delors' Bild in der Heimat nachhaltig. Er selbst bilanzierte in einer Dokumentation, er hätte vielleicht einiges voranbringen können, was ihm am Herzen gelegen habe. Doch zu einer getroffenen Entscheidung müsse man stehen. (dpa/cgo)

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