Der Islamische Staat trägt das Wort Staat im Namen. Aber funktioniert er auch wie ein Staat? Immerhin kontrollieren die Dschihadisten mittlerweile ein Gebiet von der Grösse Italiens und beherrschen laut Schätzungen rund acht Millionen Menschen. Dies bedarf effektiver Strukturen - und eines funktionierenden Verwaltungsapparates.

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Hört man in den Medien vom Islamischen Staat (IS), ist meist von brutalen Gräueltaten die Rede. Beobachter sprechen von mittelalterlichen Zuständen. Was häufig übersehen wird: Der IS hat in seinem Herrschaftsgebiet, das sich über die Hälfe Syriens und rund 40 Prozent des Irak erstreckt, effektive Strukturen etabliert. Diese setzen sich laut Bundeszentrale für Politische Bildung (BPB) "aus Elementen moderner Staatsführung und ideologischen Mafiagruppen und -bewegungen zusammen."

Florian Wätzel vom Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel sagt: "Der IS hat durchaus den Anspruch, staatliche Strukturen aufzubauen und Legitimität herzustellen. Mit einem richtigen Staat ist der IS jedoch nicht zu vergleichen."

Kein einheitliches Staatswesen

Die IS-Gebiete stehen unter der Herrschaft von Provinzgouverneuren. Sie unterstehen dem selbst ernannten Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi, der weitreichende Kompetenzen und Entscheidungsbefugnisse besitzt. Zudem hat al-Baghdadi je einen Stellvertreter für Syrien und den Irak unter sich. In seinem Kabinett sitzen weitere Gefolgsleute, die für Räte und Kommissionen verantwortlich sind. Ganz grob lässt sich das mit dem System der Minister und Ministerien vergleichen, wie man es aus anderen Staaten kennt.

Das Kabinett ist in einen Militär- und Sicherheitsrat, einen zivilen Verwaltungsrat, einen Rat der Weisen sowie Kommissionen für Haushalt und Medien gegliedert. Die Scharia-Kommission fungiert als Obergericht bei wichtigen Konflikten. Der Schura-Rat gilt mit seinen neun bis elf Mitgliedern als mächtigstes Organ: Er berät al-Baghdadi, kann ihn theoretisch absetzen und beaufsichtigt die Arbeit der anderen Räte.

"Die Verwaltungsinstanzen spiegeln sich auf ähnliche Weise in den Provinzen wieder", erklärt Florian Wätzel. Allerdings, so der Politikwissenschaftler, sei das stark vom Grad der staatlichen Kontrolle abhängig. "Wo es konkurrierende Gruppen wie die Al-Nusra-Front oder die Freie Syrische Armee gibt, hat der IS häufig kaum oder gar keine Strukturen etablieren können." Und da das IS-Territorium zu grossen Teilen aus Wüste besteht, bündelt er seine Kontrolle in den grossen Bevölkerungszentren wie der irakischen Millionen-Stadt Mossul.

Fokus auf Polizei und Gerichtsbarkeit

Die bedeutendsten Organe des IS waren von jeher Polizei und Gerichtsbarkeit. Damit haben die Dschihadisten das Gewaltmonopol an sich gerissen, damit sichern sie es auch. In anderen Bereichen ist der Staat eher schwach aufgestellt. Durch die Flucht vieler Experten – wie Ingenieure oder Ärzte – gibt es im Gesundheitswesen grosse Schwierigkeiten. Auch die Wasserversorgung ist zu einem Problem geworden: In Mossul, das wegen der Grösse für die Verwaltung eine besondere Herausforderung darstellt, gab es Klagen über die schlechter gewordene Wasserqualität.

In der Lebensmittelversorgung soll es ebenfalls Engpässe geben – Missernten drohen im ganzen Herrschaftsgebiet. "Dort sind die Grenzen der IS-Verwaltung deutlich erkennbar", analysiert Wätzel. Allerdings können die Terroristen durch die offene Kontrolle Mossuls und anderer Städte Steuern und Schutzgelder effektiver eintreiben. Das ausgeklügelte und weit verzweigte Finanz-System ist für den Machterhalt immens wichtig.

Nicht nur in Mossul, seit der Eroberung vor einem Jahr zum neuen Machtzentrum geworden, hat der IS oftmals an bestehende Strukturen angeknüpft. Viele Verwaltungsspezialisten blieben im Amt – mit IS-Aufpassern zur besseren Kontrolle an ihrer Seite. In der Stadt und dem Umland dürfte auch die zentrale Verwaltung angesiedelt sein. Über den genauen Standort macht der IS aus Angst vor Luftangriffen durch die USA jedoch ein grosses Geheimnis.

Teil der Bevölkerung begrüsste IS-Herrschaft

Florian Wätzel widerlegt zudem die Annahme, dass die Herrschaft des IS innerhalb der Bevölkerung ausschliesslich auf Ablehnung gestossen ist. So sei beispielsweise die Rückkehr stabiler Zustände in manchen Regionen Syriens, die zuvor unter wechselseitiger Kontrolle verschiedener Gruppen standen, begrüsst worden. "Mittlerweile hat sich aber Ernüchterung eingestellt, weil Verfehlungen wie Korruption oder Machtmissbrauch erkennbar werden."

Sind die staatlichen Strukturen des Islamischen Staats nun gefestigt oder eher brüchig? Wätzel macht die Antwort von der Fähigkeit der irakischen und syrischen Streitkräfte sowie konkurrierender Gruppen abhängig, die Herrschaft des IS zurückzudrängen. Entscheidend ist für ihn die Frage, ob der IS seinen Machtanspruch langfristig mit Gewalt durchsetzen und verteidigen kann. "Danach sieht es derzeit leider aus", sagt der Politikwissenschaftler. Die staatlichen Strukturen seien dann letztlich zweitrangig.

Zur Person: Florian Wätzel ist Politikwissenschaftler am Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sicherheitspolitik im Nahen und Mittleren Osten, neue Kriege und asymmetrische Konflikte, Terrorismus sowie die deutsche Aussen- und Sicherheitspolitik.
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