Am Dienstag startet in Washington der Nato-Gipfel, aber von Feierlaune ist wenig zu spüren. Grosse Herausforderungen liegen in den kommenden Tagen vor den Mitgliedsstaaten des Militärbündnisses.

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"Einer für alle, alle für einen", lautet das Beistandsversprechen der transatlantischen Allianz. Statt der viel beschworenen Einigkeit zeigen sich jedoch Risse: US-Präsident Joe Biden ist im Duell mit seinem Nato-kritischen Herausforderer Donald Trump angeschlagen. Ungarns Regierungschef Viktor Orban erzürnt die Verbündeten zudem mit Überraschungsbesuchen bei Russlands Präsident Wladimir Putin und in China.

Grosser Festauftakt zum 75. Geburtstag der Nato geplant

Der scheidende Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg will sich davon nicht die Laune verderben lassen. Er nennt seinen letzten Gipfel die Gelegenheit, "75 Jahre der erfolgreichsten Allianz der Geschichte zu feiern". Der Norweger übergibt den Stab am 1. Oktober an den ehemaligen niederländischen Regierungschef Mark Rutte.

Zum Auftakt hat Biden die anderen 31 Staats- und Regierungschefs am Dienstag zu einer Feierstunde in den Saal eingeladen, in dem zwölf Länder den Nordatlantikpakt am 4. April 1949 besiegelten. Sie reagierten damit im Kalten Krieg auf die Bedrohung durch die Sowjetunion. Durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sieht sich die oft totgesagte Nato bestärkt.

Der 81-jährige Biden muss damit rechnen, dass Medien jeden seiner Schritte und jede Äusserung genau beobachten und kommentieren. Kann er das katastrophale Bild korrigieren, das er beim Fernsehduell mit Trump hinterlassen hat? Sonst wird die Frage laut werden, wer künftig das Machtvakuum in der Nato füllen kann. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gelten seit der Europawahl als geschwächt. Gestärkt können in Washington dagegen der neue britische Premier Keir Starmer sowie Polens Regierungschef Donald Tusk auftreten.

Pistorius sichert Nato Deutschlands Unterstützung zu

Vor Ort wird auch der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) erwartet. Er hat die Bereitschaft Deutschlands bekräftigt, das Bündnis im Bedrohungsfall zu verteidigen. "Wir sind bereit, Nato-Gebiet zu verteidigen, überall da, wo es bedroht werden könnte", sagte Pistorius am Montag beim Besuch der Übung Arctic Defender 2024 in Alaska. Deutschland zeige mit der Bundeswehr und der Luftwaffe, dass es bereit sei, seinen Beitrag zu leisten.

Der Ort der Übung im US-Bundesstaat Alaska habe nicht nur einen praktischen, sondern auch einen geostrategischen Hintergrund, sagte der Verteidigungsminister weiter. Im Umgang mit der von Russland ausgehenden Bedrohung müsse die Nato auch die Arktis im Blick haben.

Pistorius habe die klare Massgabe ausgegeben, dass im kommenden Jahr die Einsatz- und Übungsfähigkeit im Vordergrund stehe, führte der SPD-Politiker in Alaska weiter aus. "Die Truppe muss ihren Job erledigen können, darauf kommt es an. Das heisst, alles notwendige Material muss zulaufen und ersetzt werden. Was an grösseren Projekten im nächsten Jahr ausgelöst werden kann oder nicht, das werden die nächsten Monate zeigen", sagte Pistorius. Er machte auch deutlich, dass er Auseinandersetzungen um den Haushaltsentwurf der Ampel-Spitzen vor dem Nato-Gipfel nicht weiterführen will. Pistorius sagte: "Wir stehen am Beginn einer grossen Übung. Die steht im Mittelpunkt. Alles Weitere wird in den nächsten Wochen in Berlin diskutiert werden."

Angst vor Trump

Einen langen Schatten auf den Gipfel wirft der republikanische US-Präsidentschaftsanwärter Trump, den Biden wenig überraschend nicht eingeladen hat. In den vergangenen Monaten hat die Allianz versucht, sich für eine Wiederwahl des 78-Jährigen zu wappnen, der mit Putin einen Deal zulasten der Ukraine finden will. Zudem drohte er nicht genug zahlenden Verbündeten, ihnen den Beistand gegen einen möglichen russischen Angriff zu verweigern.

Von dem Gipfel soll laut Diplomaten die Botschaft ausgehen, dass die Europäer die Mahnungen Trumps und anderer US-Präsidenten "verstanden" haben und fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs in ihre eigene Sicherheit investieren. Als Beleg dienen Stoltenberg die gestiegenen Verteidigungsausgaben. Deutschland und 22 weitere der 32 Mitgliedsländer erfüllen inzwischen die Nato-Vorgabe, mindestens zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben.

"Trump-sicher" sollen auch die Ukraine-Hilfen werden. Die Europäer in der Nato wollen sie künftig unter anderem aus einem neuen Hauptquartier in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden koordinieren. Dafür sind ein eigener Kommandeur und ein 700-köpfiger Stab vorgesehen. Bisher hatten die USA in der sogenannten Ramstein-Gruppe die Federführung.

Ukraine ab Donnerstag Thema

Die Ukraine steht am Donnerstag im Mittelpunkt des Gipfels. Präsident Wolodymyr Selenskyj wird zu einer Sitzung des Nato-Ukraine-Rats erwartet. Diplomaten hoffen in Washington auf mehr Harmonie als beim Gipfel in Litauen vor rund einem Jahr. Dort machte Selenskyj aus seiner Enttäuschung über die Nato-Beschlüsse keinen Hehl. Er nannte es "absurd", die Ukraine nicht zum Beitritt einzuladen, und liess sich bei einem Auftritt vor jubelnden Anhängern im Zentrum von Vilnius symbolisch zum Nato-Mitglied akklamieren.

Das soll sich in Washington nicht wiederholen. Nicht bekommen wird Selenskyj das, was er sich am meisten wünscht: eine Beitrittseinladung. Der scheidende Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat Selenskyj diesmal genau erläutert, was er in Washington erwarten kann – und was nicht. Die Gelegenheit bot sich, als der ukrainische Präsident Ende Juni während des EU-Gipfels nach Brüssel reiste und Stoltenberg im Nato-Hauptquartier besuchte, wie mehrere Diplomaten bestätigen. Der Gipfel sei diesmal "besser vorbereitet", sagt ein Diplomat, der sich wie alle anderen nur anonym äussern will. "Selenskyj wird akzeptieren müssen, was wir ihm anbieten."

Regierungsvertreter in Kiew äusserten sich vor dem Washington-Gipfel ernüchtert. "Die Chancen, eine Beitrittseinladung zu erhalten, tendieren gegen Null", sagt ein Vertreter der Ukraine. Die USA und Deutschland seien weiter dagegen – aus Furcht vor einer Konfrontation mit Russland.

Geld und Waffen in Aussicht gestellt

Nichtsdestoweniger winken der Ukraine neue finanzielle Hilfen. Die Staats- und Regierungschefs werden der Ukraine zudem neue Hilfen im Umfang von 40 Milliarden Euro innerhalb eines Jahres in Aussicht stellen. Stoltenberg hatte über mehrere Jahre einen solchen Betrag gefordert, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Nicht festgelegt ist laut Diplomaten, wer von den Verbündeten wie viele Mittel aufbringen soll. Damit bleibt das Versprechen vage.

Die konkreteste Zusage für Selenskyj könnten weitere Luftabwehrsysteme sein. Deutschland hat inzwischen ein drittes Patriot-System geliefert, Rumänien hat eines in Aussicht gestellt. Die Niederlande arbeiten mit Partnern an einer weiteren Patriot-Batterie für Kiew, und Italien will ein vergleichbares System namens SAMP/T liefern. Die Blicke richten sich deshalb vor allem auf Biden. Verteidigungsminister Lloyd Austin kündigte vor dem Gipfel neue Hilfen von 2,3 Milliarden Dollar (gut 2,1 Milliarden Euro) an. Sie sollen "mehr Patriot- und Nasams-Luftabwehrsysteme in einem beschleunigten Zeitplan" umfassen. Medien zufolge planen die USA eine Vereinbarung mit Israel, ältere Patriot-Systeme an Kiew abzugeben.

Bei bilateralen Gesprächen am Rande des Gipfels dürften einige Staats- und Regierungschefs Druck auf Orban machen. Der ungarische Rechtspopulist hat es geschafft, mit seiner selbst ernannten "Friedensinitiative" in Kiew, Moskau und Peking Unfrieden im Bündnis zu stiften. (afp/dpa/the)

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