Der neue SPÖ-Chef Andreas Babler übernimmt eine gedemütigte Partei. Das kann eine grosse Chance sein, die zerstrittenen Lager zu einen. Es droht aber auch Ungemach: Denn die grösste Gefahr für Andreas Babler ist Andreas Babler.
Ein abgewetzter Schreibtisch, hellbraune Holzvertäfelungen aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, ein Ölbild des roten "Sonnenkönigs" Bruno Kreisky an der Wand: Viel hat sich in letzter Zeit nicht geändert an der Einrichtung des Vorsitzendenbüros in der Löwelstrasse, der einst gefürchteten Trutzburg der österreichischen Sozialdemokratie in der Wiener Innenstadt. Nur den blühenden Bäumen im gegenüberliegenden Volksgarten merkt man das Alter nicht an.
Lange Zeit schien es in Österreich ein Naturgesetz zu sein, dass die SPÖ den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin stellt. Kam wider Erwarten einmal doch die konservative ÖVP ans Ruder, so betrachteten das die Genossinnen und Genossen als Ausnahme, die die Regel nur bestätigt.
Von diesem Selbstbewusstsein ist zuletzt nichts mehr zu spüren gewesen. Kaum mehr als 20 Prozent bekam die SPÖ bei den letzten Nationalratswahlen, in Umfragen lag die Partei zuletzt regelmässig auf Platz drei hinter der rechtspopulistischen FPÖ und der ÖVP. Die glücklose letzte Parteichefin Pamela Rendi-Wagner hat vor einigen Wochen das Handtuch geworfen, nachdem sie bei einer Mitgliederbefragung weniger Stimmen bekam als ihr langjähriger Rivale, der burgenländische Landeshauptmann Hans-Peter Doskozil.
Der wiederum trat auf einem Parteitag gegen
Fehler bei der Stimmenauszählung: Babler macht das Rennen
Erst hiess es, Doskozil habe das Rennen gemacht. Zwei Tage später schliesslich trat die Leiterin der Wahlkommission zerknirscht vor die Kameras und bekannte: Bei der Auszählung der Stimmen sei ein Fehler passiert, ein Mitarbeiter habe in einem Exceldokument die Teilergebnisse falsch eingetragen. Die schwer erklärbare Blamage ist wohl der Tiefpunkt in der mehr als 150-jährigen Geschichte der einst so stolzen Arbeiterpartei. Kreisky Erben haben sich zum Gespött gemacht.
Dessen früheres Arbeitszimmer steht nun Babler zu. Verwechslungsgefahr ausgeschlossen, das neue Abstimmungsergebnis wurde unter notarieller Aufsicht mehrfach überprüft. Der charismatische 50-jährige Lokalpolitiker mit marxistischer Prägung übernimmt eine tief gespaltene Partei. Die Parteilinke jubelt ihm begeistert zu.
Der Realoflügel hingegen meldet schon jetzt Bedenken an: Bablers allzu liberaler Blick auf Asyl und Migration könnte Gift bei der nächsten Wahl sein, wenn es darum geht, sich gegen die FPÖ und die in den letzten Jahren zunehmend nach rechts gewanderte ÖVP durchzusetzen. Nur mit Doskozil, einem ehemaligen Polizisten, der für eine restriktive Zuwanderungspolitik steht, hätte die SPÖ eine Chance auf Platz eins gehabt. Das legen zumindest einige Umfragen nahe.
Kommunistische Gefahr für die SPÖ
Freilich: Die österreichischen Umfrageinstitute lagen in den letzten Jahren öfters katastrophal daneben. Immer wieder wurde die Strahlkraft der Rechtspopulisten massiv unterschätzt, immer wieder haben die Demoskopen aber auch völlig übersehen, wie links der SPÖ ein neues Kraftzentrum entsteht. Die zweitgrösste Stadt des Landes, Graz, wird seit bald drei Jahren von der Kommunistin Elke Kahr regiert. Auch in Salzburg feierte die KPÖ zuletzt einen phänomenalen Triumph und kam bei den Landtagswahlen aus dem Stand auf fast zwölf Prozent.
Die schon zuletzt arg gerupfte SPÖ steckt indes seit vielen Jahren in einer schweren Krise, die jüngste Blamage war nur die bisher offensichtlichste Demütigung. Schlimmer konnte es fast nicht mehr kommen. Das freilich muss nicht unbedingt ein Nachteil für Babler sein, dem selbst wenig Wohlmeinende in der Partei zugestehen, dass er im Gegensatz zu seinen Vorgängerinnen und Vorgängern für einen unmissverständlichen, klaren Kurs steht.
Immerhin könnte nun deutlich werden, wofür die SPÖ steht. "Was Babler sagt, ist nicht besonders durchdacht und ausgereift. Aber es ist auf jeden Fall etwas Neues", sagt der konservative Publizist und Historiker Muamer Becirovic. Ob der neue SPÖ-Chef damit bei den Nationalratswahlen kommendes Jahr punkten kann?
Britische Labour-Partei als mahnendes Beispiel?
Aber Becirovic ist skeptisch. Er verweist auf die britische Schwesterpartei Labour, die 2015 den bekennenden Linksaussen Jeremy Corbyn zum Parteichef gewählt hatte. Er führte Labour in eine der schlimmsten Niederlagen ihrer Geschichte und musste 2020 zurücktreten. Nun steht der Moderate Keir Starmer an der Spitze von Labour – und die Partei liegt in Umfragen meilenweit vor den regierenden Konservativen.
Freilich: Die Ausgangslage der beiden Parteien lässt sich nur bedingt vergleichen. "Ich kann mich auch täuschen", sagt Becirovic. "Tatsache ist, es lässt sich aus heutiger Sicht nicht abschätzen, wie die kommenden Nationalratswahlen für die SPÖ ausgehen."
SPÖ muss einen Weg zwischen Humanität und Härte finden
Die parteiinternen Flügelkämpfe gibt es seit mehr als 25 Jahren. Der Streit begann mit dem Aufstieg der FPÖ und Jörg Haider, der offensiv gegen Zuwanderung mobil machte und sich damit einen Wahlsieg nach dem anderen holte. Man müsse nachziehen und beim Thema Migration härter werden, argumentierten die einen. Man müsse sich im Gegenteil noch viel schärfer von der FPÖ abgrenzen, entgegneten die anderen. Jahrzehntelang mäanderte die SPÖ zwischen Humanität und Härte; wofür sie steht, war zuletzt kaum erkennbar.
Jetzt ist eine Entscheidung gefallen. Babler positioniert sich als Menschenfreund, für den alle Leute gleich wichtig sind, ob sie die Staatsbürgerschaft besitzen oder nicht. Mit seinen Ansichten gehörte er bisher in der SPÖ einer Minderheit an. Nun muss ihm die Partei folgen, auch wenn Konflikte vorprogrammiert sind: Schon kurz nach Verkündung des letztgültigen Parteitagsergebnisses meldeten sich erste Kritiker wie die SPÖ-Chefs aus Salzburg oder Tirol zu Wort, um mehr Pragmatismus einzufordern.
Babler stärkstes Argument sind die Ergebnisse der Gemeinderatswahlen in Traiskirchen. Mehr als 70 Prozent holte er dort zuletzt mit seinem Linkskurs, obwohl in der Kleinstadt das grösste und zwischenzeitig heillos überfüllte Flüchtlingslager Österreichs angesiedelt ist. Der Bürgermeister setzt nicht zuletzt auf seine Volksnähe.
Babler spricht im breiten Dialekt, er hat keine Berührungsängste mit einfachen Menschen und spricht die Probleme des Alltags mit einfachen Worten an: die massiven Teuerungen des letzten Jahres, horrende Nachzahlungen bei den Energierechnungen, Angst vor einem Jobverlust, die Nöte alleinerziehender Eltern. In den letzten Jahren hatte sich die FPÖ geschickt als Stimme der "kleinen Leute" positioniert. Hier will der neue SPÖ-Chef angreifen.
Grosskonzerne und Superreiche als neues Feindbild
Sein Kalkül: Die Angst davor, dass der Bankomat kein Geld ausspuckt, ist stärker als das Ressentiment gegen Flüchtlinge. Und weil es in der Politik Reibung braucht, hat er ein neues Feindbild ausgemacht: Grosskonzerne und Superreiche. Sie sollten mehr von ihren Gewinnen abgeben, um soziale Wohltaten zu finanzieren.
Ob Bablers Rechnung aufgeht, wird sich zeigen. Dem neuen SPÖ-Chef spielt jedenfalls noch ein anderer Umstand in die Karten. Es ist kein grosses Geheimnis, dass die Partei in den letzten Jahren praktisch reformunfähig war. Neben den ideologischen Flügelkämpfen gab es auch jene um Postenbesetzungen und Wahrung persönlicher Machtpositionen.
Zuletzt hatte Bablers Vorvorgänger Christian Kern mit dem Parteiestablishment angelegt – und den Kampf verloren. Er trat schliesslich völlig überraschend zurück und machte Pamela Rendi-Wagner eigenmächtig zu seiner Nachfolgerin. Letztendlich blieb der Partei nichts anderes übrig, als deren Bestellung abzunicken. Auch das sollte sich als schweres Erbe für die SPÖ-Chefin erweisen.
Nun aber ist das einst mächtige Establishment gedemütigt. Davon ist zumindest der unabhängige Blogger und Politikexperte Johannes Huber überzeugt: "Babler ist in einer Traumlage, als hätte er am Parteitag hundert Prozent bekommen. Alle müssen froh sein, dass er übernimmt." Der neue Parteichef verspricht mehr parteiinterne Demokratie: Die einfachen Mitglieder sollen inhaltlich stärker eingebunden werden, Koalitionsverträge erst unterschrieben werden, wenn die Basis zustimmt. Für all das hat der neue Parteichef jetzt freie Bahn.
Und trotzdem warten nach allerhand Probleme auf ihn. "Babler kann das Thema Asyl und Migration nicht einfach aussparen", sagt Huber. Letztlich müsse auch der neue SPÖ-Chef anerkennen, dass es durchaus Probleme mit Zuwanderung gebe. "Bisher stottert er bei dem Thema herum. Man kann nur ahnen, was er meint." Letztlich müsse er aber eine klare Ansage machen, dass es Grenzen der Aufnahmefähigkeit für Flüchtlinge gibt.
"Entscheidung der SPÖ für Babler ist spannend, aber hochriskant"
Und dann gibt es noch eine grosse Gefahr. Der neue SPÖ-Chef trägt das Herz auf der Zunge. "Er ist sehr leidenschaftlich", sagt Huber. "Damit wirkt er derzeit stark nach innen. Aber das kann auch sehr gefährlich werden." Vor dem Parteitag ist ein Video aufgetaucht, in dem er mit derben Worten gegen die EU vom Leder zog, die er unter anderen als "aggressivstes militärisches Bündnis" der Welt bezeichnete.
Er hat das vor dem Einmarsch Russlands in der Ukraine gesagt, aber nach der Annexion der Krim. Später rechtfertigte er sich für diese Aussagen, indem er von "semantischen Spitzfindigkeiten" sprach. Zugleich liess er in mehreren TV-Interviews offen, ob er nun Marxist sei oder nicht. Mal sagte er ja, mal nein. "Keiner weiss, ob nicht noch weitere solche Videos auftauchen", sagt Huber. "Die Entscheidung der SPÖ für Babler ist spannend, aber hochriskant. Er muss aufpassen, welche Signale er setzt, um die Leute nicht nachhaltig zu verschrecken."
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Sollte die SPÖ unter Babler schliesslich kommendes Jahr wirklich die Nationalratswahlwahl gewinnen, würde die Partei vor einer weiteren Baustelle stehen: Es wird nicht schwer sein, Koalitionspartner zu finden. Der neue Parteichef träumt von einer Ampel-Koalition mit den Grünen und den liberalen Neos. Letztere teilen zwar viele seiner gesellschaftspolitischen Ansichten. Dass sie einen bekennenden Marxisten zum Kanzler machen, ist aber doch eher unwahrscheinlich.
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