Vor genau 50 Jahren, am 21.August 1968, besetzten die Truppen des Warschauer Paktes dieTschechoslowakeiund beendeten den "Prager Frühling." In der Schweiz protestierten Tausende, um ihre Solidarität mit den Tschechen und den dortigen Versuchen einer Demokratisierung zu zeigen. Die Schweiz wurde zu einem bevorzugten Zielland für tschechische Flüchtlinge.

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"Wir sind unter sowjetischem Feuer", schrieb Samuel Campiche, Schweizer Botschafter in Prag, in einem Telegramm, das er am späten Vormittag des 21. August 1968 an das Aussenministerium in Bern sandte. Campiche war einige Stunden zuvor durch den Lärm von Flugzeugen geweckt worden. In der Nacht waren rund 500‘000 Soldaten der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei einmarschiert.

Samuel Campiche war im April 1967 als Schweizer Botschafter nach Prag gekommen. Er verfolgte die von Dubček angestrengten Reformen natürlich mit grossem Interesse und grosser Aufmerksamkeit.

"Die Entwicklung in den letzten Monaten war zugleich dynamisch und voller Überraschungen", schrieb Campiche ein Jahr nach seinem Amtsantritt in der tschechoslowakischen Hauptstadt. "Wir sind mit einem Mal aus dieser Art von dunklem Mittelalter des orthodoxen Kommunismus herausgetreten, um in einem Land des gesunden Menschenverstandes und einer gewissen Offenheit zu landen."

Mitten im Gefecht

Doch als der Botschafter am Morgen des 21.August 1968 aus dem Fenster schaute, hatten bereits Dutzende von Panzern die neuralgischen Punkte der Stadt besetzt. Viele Beobachter hatten sich seit geraumer Zeit gefragt, ob die Sowjetunion zu gewalttätigen Mitteln greifen würden, um das gesellschaftliche Experiment in der Tschechoslowakei zu beenden. An diesem Morgen gab die Sowjetunion diese Antwort in aller Klarheit.

Der damalige Sitz der Schweizer Botschaft im Palais Schwarzenberg befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Prager Burg, wo der Präsident der Republik residierte. Campiche war daher mitten im Geschehen, genauso wie eine Gruppe von Schweizer Touristen, die sich in die Botschaft geflüchtet hatte. Im Laufe des Vormittags geriet auch die diplomatische Niederlassung der Schweiz unter Beschuss. "Es gibt Projektile aller Grössen in meinem Schlafzimmer", schrieb der Botschafter in sein Tagebuch.

Was war passiert? Moskau gab die Schuld den "Provokateuren". Die eigene Verantwortung wurde bestritten, obwohl ein ranghoher sowjetischer Funktionär gegenüber dem Schweizer Botschafter eingeräumt hatte, dass die Schüsse von Soldaten der Roten Armee abgefeuert worden waren, um auf vorgetäuschte Schüsse aus dem Palais Schwarzenberg zu reagieren. Die Angelegenheit hatte jedoch keine gravierenden Nachwirkungen.

"Relativ handzahm"

Gemäss dem Historiker Thomas Bürgisser, Mitglied der Forschungsstelle "Diplomatische Dokumente Schweiz", fiel die Reaktion der Schweizer Behörden auf die Ereignisse von Prag "relativ handzahm" aus. Am 21. August verlas der Bundeskanzler eine Erklärung der Regierung, in welcher er die "Sympathie des Schweizer Volks für das Verlangen der Tschechoslowaken, mehr Freiheit bei den individuellen Rechten zu beanspruchen", zum Ausdruck brachte. Die Regierung machte sich zugleich zum Sprecher weit verbreiteter Ängste, "wonach in der heutigen Welt die Unabhängigkeit und das Existenzrecht von Kleinstaaten bedroht sind."

Einen etwas schärferen Ton schlug der damalige Bundespräsident Willy Spühler am gleichen Nachmittag in einer Unterredung mit dem Geschäftsträger der UdSSR in Bern, Fedor Mikhailov, an. Dieser hatte erklärt, "dass sich die Regierung der CSSR infolge der Verschwörung der imperialistischen Kräfte und der Reaktion ausserhalb und innerhalb der Tschechoslowakei an die Regierungen der Warschauer-Pakt-Staaten gewandt habe, mit der Bitte, unmittelbare militärische Hilfe zu leisten."

Spühler stellte die sowjetische Sicht der Dinge in Frage und erklärte, dass das Schweizervolk "mit Erschütterung" die Ereignisse in der Tschechoslowakei verfolge. "Die Gefühle des Schweizer Volkes sind ganz auf der Seite des tschechischen Volkes", sagt er.

Antisowjetische Demonstrationen

Tatsächlich gab es in der Bevölkerung heftige anti-sowjetische Reaktionen. Zehntausende von Personen beteiligten sich in Bern und Zürich an Demonstrationen gegen die UdSSR. Etliche Bürgerinnen und Bürger sandten empörte Briefe an den Bundesrat. Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft in Bern wurden belästigt, ausserdem gab es Vandalenakte gegen die sowjetische Fluggesellschaft Aeroflot und die sowjetische Handelsbank in Zürich. Die Forderung nach der Einstellung jeglicher diplomatischer und kommerzieller Beziehungen mit den Warschauer-Pakt-Staaten wurde lauter.

Der Bundesrat lehnte solche Forderungen aber entschieden ab. Spühler rief im Parlament wiederholt dazu auf, Ruhe zu bewahren. "Ein Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion würde nur dazu beitragen, dieses Volk in die Isolation zu treiben", sagte der Bundespräsident vor der aussenpolitischen Kommission des Parlaments. "Nicht wir müssen die Kontaktaufnahme fürchten, sondern jene, welche die Freiheit unterdrücken."

"Die Reaktion der Regierung muss im Kontext der Entspannungspolitik gelesen werden, welche die Herangehensweise der westlichen Staaten an die Warschauer-Pakt-Staaten in den 1960er-Jahren kennzeichnete", sagt Historiker Bürgisser. Und fügt an: "Das war auch Ausdruck eines Normalisierungsprozesses der schweizerischen Aussenpolitik. Bei der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 war die Reaktion der Schweiz noch härter. Ende der 1960er-Jahre spielten auch die Handelsbeziehungen mit dem Sowjetblock eine Rolle: Die UdSSR war ein guter Kunde."

"Grosszügige Gastfreundschaft"

Die Solidarität mit dem tschechoslowakischen Volk hatte kaum Folgen in der offiziellen Diplomatie, spiegelte sich aber deutlich in einer grosszügigen Aufnahmebereitschaft gegenüber Flüchtlingen. Am 30. August 1968 entschied das Justiz- und Polizeidepartement "allen Tschechoslowaken – zumindest vorübergehend – Aufenthaltsrecht zu gewähren, unabhängig davon, ob sie Asyl beantragen oder nicht."

Die Öffnung der Grenzen führte zu einem regelrechten Ansturm "auf unsere Auslandsvertretungen" und "unsere Sammelpunkte an den Grenzübergängen von St. Margrethen und Buchs", heisst es in einer Notiz des Bundespräsidenten vom September 1968.

Dank seiner "grosszügigen Gastfreundschaft", wie Willy Spühler damals sagte, wurde die Schweiz zum bevorzugten Zielland für geflüchtete Tschechoslowaken. Ende 1969 hielten sich bereits mehr als 11‘000 anerkannte politische Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei in der Schweiz auf. Insgesamt lebten zwischen 13'000 bis 14'000 Tschechoslowaken in der Schweiz. "Diese Solidarität beruht sicherlich auch auf einem antikommunistischen Reflex", meint Thomas Bürgisser. "Dazu kam, dass es sich generell um gut ausgebildete Personen handelte, die von einem kleinen Land kamen, mit dem sich die Schweizer im weitesten identifizieren konnten, und mit dem die Schweiz nach der Machtübernahme durch Dubček gute diplomatische Beziehungen unterhielt."

Paradoxerweise entfaltete sich diese Solidarität gegenüber den tschechoslowakischen Flüchtlingen ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem in der Schweiz eine Debatte zur "Überfremdung" durch Ausländer wütete. Diese war durch die so genannte "Schwarzenbach-Initiative" angestossen worden, welche die Zahl der Ausländer in der Schweiz reduzieren wollte. "Interessanterweise hatte die Diskussion um die Ausländer in der Schweiz keinerlei Einfluss auf die Bereitschaft zur Aufnahme tschechoslowakischer Flüchtlinge."

Der Schweiz dankbar

"Die Schweizer haben uns sehr grosszügig aufgenommen. Ich bin der Schweiz bis heute dankbar. Mein Leben wäre wohl ganz anders verlaufen, wenn ich dem Rat meiner Mutter nicht gefolgt wäre, die damals drängte, die Tschechoslowakei zu verlassen, um hier zu studieren", sagt die Psychologin Jaromira Kirstein, die 19 Jahre alt war, als sie 1968 in die Schweiz kam. In der Tschechoslowakei besuchte sie eine Kunstschule und war politisch nicht aktiv.

"In den 1960er-Jahren hatten wir gewisse Freiheiten. Wir hörten Beatles und Rolling Stones. Ich lebte eine Art Bohemien-Leben". Doch nach dem 21. August 1968 drängte ihre Mutter darauf, die Heimat zu verlassen: "Hier wirst du nicht studieren können."

In der Schweiz lebte sie zuerst bei einer Familie in Ennetbaden im Kanton Aargau, die sie n der Tschechoslowakei kenngelernt hatte. Dann ging sie für ein Jahr nach Freiburg, um die Matur zu machen, "eine Spezial-Matur für tschechoslowakische Flüchtlinge". Danach studierte sie an der Universität Bern, um 1973 schliesslich in die Bodensee-Region zu ziehen.

"Am Anfang war mein grösstes Problem die Sprache. In den ersten Uni-Jahren sagte ich kaum etwas. Ich versuchte, Schweizer-Deutsch zu lernen, aber es gelang mir nicht. Doch die Schweizer waren immer sehr geduldig." 1983 wurde Jaromira Kirstein eingebürgert.

Das gleiche Schicksal erlebten damals viele Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei: Neue Sprache, neue Kultur, eine andere Gesellschaft. Einer von ihnen war Jaroslav Krupička, ein Eishockeyspieler aus Brünn, der 1969 in die Schweiz kam. Seine Geschichte wird, genauso wie das Schicksal von weiteren 24 Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei, in einer Wanderausstellung erzählt, welche die Schweizer Botschaft in Prag organisiert hat.

"Ich war jung und bereit, alles zu tun", wird Krupička im Ausstellungskatalog zitiert. "Ich bekam einen Job als Mechaniker bei AMAG. Ich war der Neue und sprach nicht die ortsübliche Sprache. Das war hart. Doch dann begann ich, Eishockey zu spielen. Und fast alle Zeitungen schrieben plötzlich über mich (…). Zu Hause wäre ich nur einer von vielen Spielern gewesen, aber hier bin ich ein Star geworden."


(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)  © swissinfo.ch

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