"Wahre Integration ist, wenn keiner fragt, woher du kommst": Rund 30.000 Menschen haben 2015 in der Schweiz Asyl gesucht. Experten erklären im Interview, worauf es jetzt ankommt.
Wer schnell die Sprache der neuen Heimat lernt und Arbeit findet, dessen Chancen stehen nicht schlecht: "Auf diese beiden Aspekte sind wir beim Thema Integration immer sehr fokussiert", sagt Ivica Petrušić. Der Züricher Sozialarbeiter bemerkt: "Wir identifizieren uns in der Schweiz sehr über unseren Beruf." Für Integration sei aber auch der gesellschaftliche Kontakt über den Arbeitsplatz hinaus sehr wichtig: "Im Alltag, mit den Nachbarn, über Vereine."
"Wir leben in einer Gesellschaft, die sich sehr stark individualisiert hat, in der sich viele Menschen zurückgezogen haben", bedauert Petrušić. "Viele leben ausserdem nicht an dem Ort, an dem sie arbeiten." Faktoren, die den Austausch erschweren können. Dieser Austausch sei aber "die eigentliche Grundlage von Integration".
"Beide Seiten müssen aufeinander zugehen"
Petrušić nennt ein Beispiel: das Thema Erziehung. "In vielen Ländern geschieht Erziehung auch im öffentlichen Raum. In der Schweiz hingegen haben wir sehr stark die Vorstellung von der Erziehung in den eigenen vier Wänden." Über solche Themen müsse man reden – "und zwar nicht nur Integrationsbeauftragte oder die Polizei", findet Petrušić.
Heute erwarte die Gesellschaft stattdessen, dass die Menschen, die neu hinzukommen, sich komplett anpassen. "Man schwimmt auf dieser Empörungswelle, man erwartet etwas von den neuen Bürgern. Aber wenn wir von Integration reden, dann müssen beide Seiten aufeinander zugehen." Sonst, so der Sozialarbeiter, schlittere das Land in eine Krise.
Integration gesetzlich verordnet
Auch für Eleonore Wettstein ist klar: "Integrieren kann man sich nicht selber, das ist eine bilaterale Angelegenheit. Egal, aus welcher Schicht man kommt und aus welchem Land." Sie ist die Leiterin der Informationsstelle Integration bei der Baseler Ausländerberatung. Integration, meint sie, geling nur, "wenn die zuwandernden Personen einen Platz im Arbeits- und im gesellschaftlichen Leben finden."
Wettstein lobt bestehende Gesetze zum Thema Migration/Integration in der Schweiz als "sehr fortschrittlich". Integration sei gesetzlich verordnet, im Ausländergesetz gehe es ums Fördern und Fordern, auch die Behörden und die Aufnahmegesellschaft würden in die Pflicht genommen.
Direkte Demokratie als Falle?
Das könne sich aber auch schnell ändern: "Durch unser politisches System der direkten Demokratie kann jeder Unwillen mittels Volksinitiative zu restriktiveren Gesetzen führen." Diese Initiativen seien immer auch ein Stück weit Stimmungsbarometer. Ein Beispiel: die aktuelle "Durchsetzungsinitiative", bei der es um Kriminalität geht und über die die Schweizer im März abstimmen. "Das würde bedeuten, dass jeder Ausländer, auch Secondo, schon bei kleinen Delikten ausgeschafft werden müsste."
Hinderlich für die Integration ist Wettstein zufolge das Einbürgerungsverfahren. Es setzt voraus, dass man bereits seit zwölf Jahren in der Schweiz lebt. "Jahre als Asylsuchender, Studienzeit, Kurzaufenthalter zählen dabei aber nicht. Wer erst nach rund 14 Jahren Aufenthalt in einem Land politisch mitreden kann, hat die Lust und Energie dann dazu möglicherweise verloren", bedauert Wettstein.
Soziologe: Geht "um viel existenziellere Fragen"
Im Angesicht der aktuellen Flüchtlingssituation hält Esteban Piñeiro die Frage nach Integration gänzlich für die falsche: "Es geht aktuell um viel virulentere Sorgen, um viel radikalere, existenziellere Fragen als die der Integration", sagt der Soziologe von der Fachhochschule Nordwestschweiz in Basel. Viele Asylsuchende lebten in Camps, die man als "Gegenorte zum Ort der Gesellschaft" beschreiben könne. "Da geht es doch zunächst darum, das Chaos zu bewältigen, um Fragen der Sicherheit oder beispielsweise nach der Nahrungsversorgung. Hier ist humanitäre Nothilfe gefragt. Die ist viel grundsätzlicher angelegt als eine integrationspolitische Agenda."
Integration sei auch eine wichtige Frage – "aber eine für andere Kontexte". Es scheint widersprüchlich oder gar schon zynisch, wenn einerseits Notcamps für Flüchtlinge eingerichtet werden und zugleich von ihnen Integrationsleistungen gefordert werden." Er zieht einen Vergleich: "Bei Menschen, die unter diesen Umständen leben müssen, die Frage nach der Integration zu stellen, ist, als frage man einen Sozialhilfeempfänger nach seinen Eigenheim-Plänen."
Gratissprachkurs ab Tag eins
Und doch sind vielen, die im Tagesgeschäft mit Asylsuchenden zu tun haben, auch Projekte und Initiativen zur Integration sehr wichtig. Was das Thema Spracherwerb angeht, lobt Wettstein die Bevölkerung des Kantons Basel-Stadt. Dort hatte man 2014 beschlossen, dass jeder Neuankömmling einen Gratisdeutschkurs von 80 Lektionen bekommt. "Das heisst: Deutschunterricht ab dem ersten Tag."
Petrušić stammt aus Bosnien. Er weiss sehr gut, was es heisst, sich in einem neuen Land, sich als Fremder in der Schweiz zurechtfinden zu müssen. Deswegen wünscht er sich unter anderem mehr Unterstützung, mehr finanzielle Mittel, mehr Räumlichkeiten für Sport- oder Kulturprojekte: "Das Basketballfeld am Jugendzentrum, das war der Ort, an dem ich nicht danach gefragt wurde, wer ich bin, woher ich komme und wie lange ich schon da bin. Das ist wahre Integration."
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.