Zwei Nackt-Selfie-Skandale innert kurzer Zeit erschüttern die Schweiz. Der Badener Stadtammann und Nationalrat Geri Müller sorgt für Aufsehen, weil er Nacktfotos von sich aus seinem Büro verschickt haben soll, eine Sekretärin des Bundeshauses wurde wegen ähnlicher Vorfällen suspendiert. Warum machen Menschen so etwas? Wir haben mit Psychologin und Psychotherapeutin Christa Schirl gesprochen.

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Selfies liegen im Trend. Gerade haben zwei Nackt-Selfie-Skandale die Schweiz erschüttert. Was bewegt Menschen dazu, Nacktfotos von sich zu verschicken?

Christa Schirl: Grundsätzlich gibt es natürlich eine ganze Reihe an Motiven, die in solchen Fällen eine Rolle spielen können. Naheliegend wäre zu denken, dass Naivität, ein hohes Mass an Verliebtheit, tiefes Vertrauen in andere Menschen oder Berechnung im Spiel sein können. Besonders wenn das Gefühl grosser Nähe und Intimität im Raum steht, tendieren Menschen zu solchen Handlungen. Die Beweggründe sind bei weitem nicht darauf eingrenzbar und dürften in diesen beiden Fällen auch anders gelagert sein.

Bestehen aus Ihrer Sicht zwischen den Fällen von Geri Müller und der Bundeshaussekretärin Unterschiede bezüglich möglicher Motive?

Gegen ein Tabu, nämlich das Amtsgebäude für die Nacktbilder zu missbrauchen, haben ja beide Personen verstossen. Das ist auch beiden vorzuwerfen. Und nachdem die Handlungen an die Öffentlichkeit gedrungen sind, kann man auch nicht mehr von einer Privatsache sprechen. Allerdings soll die suspendierte Sekretärin ja mehrmals Fotos von sich angefertigt und selbst in sozialen Netzwerken verteilt haben. Das lässt an eine gänzlich anders gelagerte Situation und andere Motive denken als beim Politiker, der die Bilder an eine Bekannte und vermeintlich vertrauenswürdige Person geschickt hat.

War Müller einfach zu vertrauensselig?

Wenn man eine Beziehung eingeht, dann basiert das auf Vertrauen und dem Wunsch nach Nähe und Intimität. Manche Menschen fassen schneller Vertrauen, andere sind vorsichtiger. Was Müller getan haben soll, könnte aus einer vertrauensvollen, intimen Haltung heraus geschehen sein, im Glauben daran, dass die Bilder auch gleich wieder gelöscht oder zumindest nicht gegen einen verwendet werden und dass vertrauensvoll damit umgegangen wird.

Christa Schirl hat eine Praxis in Linz.
Christa Schirl hat eine Praxis in Linz.: Christa Schirl hat eine Praxis in Linz. © null/Anette Friedel-Prenninger / zvg

Wenn jemand eine vertraute Person bittet, kompromittierende Fotos zu löschen, dann ist es – meiner Ansicht nach – eine moralisch-ethische Verpflichtung, diesem Wunsch auch nachzukommen. Wie die Medien berichten, hat sich die Empfängerin der Nacktfotos durch diesen Wunsch unter Druck gesetzt gefühlt und mit Drohungen – möglicherweise sogar Suiziddrohungen – reagiert.

Welche Szenarien wären noch denkbar?

Denkbar wäre auch, dass ein Mensch in seiner Verliebtheit unter Einfluss des Hormoncocktails, wenn die Sehnsucht nach Nähe, Intimität und sexuellen Begierden einfach sehr gross ist, Dinge tut, die er nicht täte, wenn er klar sehen und denken würde – also nicht verliebt wäre. Narzissmus könnte als Motiv auch eine Rolle spielen, wobei Geri Müller eher nicht so auf mich wirkt. So würde ich mehr den damaligen Skandal um Bill Clinton einstufen.

Auf einen kalkulierten Skandal deutet also nichts hin.

An wirtschaftliches Interesse könnte man denken, allerdings eher im Fall der Sekretärin, die vielleicht so auf sich aufmerksam machen wollte. Sex sells, das weiss man ja aus der Werbepsychologie, und nachdem sich die Schamgrenze in den letzten Jahrzehnten deutlich verschoben hat, müssen die Reize eben immer stärker werden. Was in den 1950er-Jahren erotisch war, lockt heute fast keinen mehr hinter dem Ofen hervor. Viele Musikvideos haben beispielsweise heutzutage pornografische Elemente.

Möglicherweise wollte sie sich auch einfach im Web zur Schau stellen, um sich als begehrenswerte, sexy Frau zu präsentieren: Schaut mich an, ich bin eine schöne Frau, ich bin begehrenswert! Und nachdem Menschen unterschiedlich gelagertes Schamgefühl haben, ist für den einen ein Nackt-Selfie, das im Internet kursiert, ein No-Go, für jemand anderen aber schon im Bereich des normal Vertretbaren.

Aber dazu muss man sich ja nicht unbedingt im Büro ausziehen.

Dass das in den Amtsräumen passierte, könnte vielleicht ein zusätzlicher Kick für die Dame gewesen sein, sei es, weil sie etwas Verbotenes tun wollte, oder weil sie eine Machtdominanz ihrem Arbeitgeber gegenüber ausdrücken und ihm zeigen wollte, dass sie immer noch machen kann, was sie will. So mancher Mensch will sich einfach ab und zu auch mächtig fühlen. Andere wieder haben Fantasien von Sex am Arbeitsplatz oder etwa am Schreibtisch, weil das einen besonderen Reiz ausübt: Man könnte gestört werden, es ist verboten. Und vielleicht ist das sogar mit einer exhibitionistischen Neigung verbunden.

Hier fehlt mir, zumindest der Mediendarstellung nach, jedoch die persönliche Einsicht der Betroffenen, in welchem Beruf und in welcher Umgebung welches Verständnis von "Privatleben" angebracht ist. Und das ist auch ein Unterschied zu Geri Müller, der seinen Fehler anscheinend einsieht, dazu steht und sich nicht beleidigt zurückgezogen hat.

Warum riskiert ein hochrangiger Politiker seinen Ruf wegen Nacktbildern?

Politiker sind ja auch nur Menschen mit einem gewissen Mass an Willenskraft, die es uns ermöglicht, auf Dinge zu verzichten, sich angepasst zu verhalten oder Gefühle zu kontrollieren. Als Politiker hat man meist einen sehr dichten Zeitplan, steht im Rampenlicht und muss häufig eine Rolle spielen, Gefühle und Worte unterdrücken, Mimik, Wortwahl und sein Verhalten kontrollieren: Selbstkontrolle bestimmt den Tagesablauf.

Dann sind unendlich viele Entscheidungen zu treffen, von grosser Tragweite und geprägt von immer höher werdender Komplexität. Nun kann man Selbstkontrolle und Entscheidungsfähigkeit wie Muskeln betrachten, die, wenn sie überstrapaziert werden, geschwächt werden, man wird müde, man ist es leid. Man spricht hier von Ego-Depletion, also "Ego-Erschöpfung": In diesem Zustand ist die Fähigkeit zur Selbstkontrolle vorübergehend geschwächt.

Wie kann das sein?

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen den ganzen Tag in Meetings, die Themen hängen Ihnen schon zum Hals heraus, die ganze Zeit müssen Sie sich zusammenreissen, weil das Ihr Job ist. Und nach einem solchen Tag kommt man heim, streitet mit dem Partner, fällt über den Kühlschrankinhalt her oder geht Shoppen bis zum Exzess.

Ist die Willenskraft erschöpft, passieren zwei Dinge: Die Gefühle werden immer intensiver spürbar und die Bedürfnisse immer stärker wahrgenommen. Jeder kennt es von sich selbst, dass man nach einer Reihe von Entscheidungen entscheidungsmüde wird. Am Beginn eines Entscheidungsprozesses wählen wir sehr sorgfältig aus, je mehr Entscheidungen wir gefällt haben, umso nachlässiger und gleichgültiger gehen wir vor. Unsere Willensstärke sinkt, unsere Entscheidungskraft ist erschöpft.

Menschen in einer Ego-Erschöpfung reagieren verlangsamt, verlieren viel eher die Selbstkontrolle, die Fehleranfälligkeit steigt rapide an: Und dann folgt die Dummheit, die man am helllichten Tag, wenn man noch Kraft hat und nicht ausgelaugt ist, niemals tun würde.

Das könnte also jedem von uns passieren?

Jeder Mensch sollte sich einmal selbst beobachten: Wann bin ich so erschöpft, dass ich keine guten Entscheidungen mehr treffen kann? Wann ist meine Selbstkontrolle nicht mehr garantiert und ich schreie Partner und Kinder an?

Das Beste wäre natürlich, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen und rechtzeitig eine Pause zu machen, sich zu erholen, bevor das innere Konto leer ist. Die Willenskraft ist bei jedem Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt, wichtig ist, sich bewusst zu sein, dass sie aber in allen Lebensbereichen gleich stark ist: Man hat nicht im Beruf mehr zur Verfügung als privat. Und insofern können jedem Menschen Fehler passieren, Entscheidungen sich als falsch erweisen. So auch bei Geri Müller, der aber offenbar die Zivilcourage hat, dazu zu stehen und sich wohl auch nicht vor einem Publikwerden gescheut hat, indem er nach der Suizidandrohung der Frau Unterstützung geholt hat, wie es sich gehört.

Hat Geri Müller etwas falsch gemacht?

Da es im Sinne eines Cyber-Mobbings immer wieder zum Missbrauch von privaten Bildern kommt, könnte Geri Müller in der Hinsicht ein Vorbild sein: Dass er den Mut hat – trotz eines für ihn sehr intimen und vielleicht auch peinlichen Fehlverhaltens – sich an die Exekutive zu wenden.

Mag. Christa Schirl ist Psychologin und Psychotherapeutin in Linz. In ihrer Praxis bietet sie psychologische Beratung, Coaching und sinnzentrierte Psychotherapie an.
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