Tagelang haben die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten darüber verhandelt, wer neuer Präsident der Europäischen Kommission werden soll. Am Ende wurde keiner der gewählten Spitzenkandidaten gekürt, sondern die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen vorgeschlagen. Wir haben einen Experten gefragt, ob das Prinzip der Spitzenkandidaten am Ende ist und inwiefern dadurch die Demokratie im Europaparlament leidet.
Herr Professor Schroeder, Frankreich blockiert den Spitzenkandidaten
Wolfgang Schroeder: Nein, das ist einer breiten Öffentlichkeit nur sehr schwer zu erklären. Aber da es nun mal so ist, dass die Mehrheit für eine Lösung, wie sie den Wählern versprochen wurde, nicht herstellbar ist, müssen die Akteure einen anderen Kompromiss versuchen.
Die Wähler haben die jetzige, sehr schwierige Situation organisiert – sie haben ein pluralistischeres, fragmentiertes Parlament mit einer zweifachen Spaltung geschaffen: Zum einen hat sich die Zahl der Fraktionen erhöht und die klassischen Volksparteien sind kleiner geworden, zum anderen verläuft der Riss auch innerhalb dieser Blöcke. Demzufolge ist jetzt eine Entscheidungsfindung entlang der Linie der Volksparteien nicht mehr möglich.
Das Prinzip der Spitzenkandidaten war der Versuch des Europaparlaments, sich stark und attraktiv zu machen, der Öffentlichkeit zu zeigen: "Wir haben etwas zu sagen." Mir fehlt die Fantasie, um mir auszudenken, was man dem Parlament zum Ausgleich anbieten könnte.
Ist mit dem Scheitern des Spitzenkandidaten-Prinzips auch die Demokratisierung des Europaparlaments gescheitert?
Man muss erst mal sehen, ob wirklich etwas gescheitert ist –
Man muss aber feststellen, dass das Spitzenkandidaten-Prinzip nicht nur in den Verhandlungen, sondern von zwei Seiten gebrochen wurde: Zum einen wurde es von einer Reihe von Ländern von Anfang an nicht ernst genommen – für Frankreich hat es gar nicht wirklich existiert.
In Deutschland hat die SPD fast keine Werbung für
Zumindest das Spitzenkandidaten-Prinzip scheint mit der Entscheidung für Frau von der Leyen am Ende zu sein.
Das muss nicht sein! Das Prinzip sollte die Wahlen interessanter machen, die Politik mit "Köpfen" verbinden und das Europaparlament aufwerten. Diese Ziele sind den Parlamentariern weiterhin wichtig. Sie wollen nicht 2024, beim nächsten Wahlkampf, wieder als "graue Mäuse" antreten.
Ich selbst fand den Weg des Spitzenkandidaten-Prinzips richtig: Politik braucht Köpfe, Politik braucht eine persönliche Komponente. Aber das Problem ist auch die nicht wirklich funktionierende europäische Öffentlichkeit. Wir orientieren uns weiter an nationalen Öffentlichkeiten. Der Kommissionspräsident ist im Prinzip der europäische Regierungschef, er hat die Richtlinienkompetenz, er leitet das Europaparlament im Sinne eines Regierungschefs. Es scheint mir richtig, dass der Wähler weiss, wen er zum Regierungschef wählt.
Aber das Parlament geht aus dieser Auseinandersetzung geschwächt hervor.
Auch das ist noch nicht entschieden, sondern hängt davon ab, wie es jetzt weitergeht. Wenn das Parlament Widerstand leistet gegen die Entscheidung der Regierungschefs, könnte es auch als gestärkt aus dem Konflikt hervorgehen.
Widerstand gegen von der Leyen würde auf einen offenen Machtkampf zwischen Rat und Parlament hinauslaufen…
Dazu wird es wohl kommen, weil massgebliche Akteure sich bereits festgelegt haben – der Rat auf der einen Seite, einzelne Parlamentarier und ganze Fraktionen auf der anderen Seite. Das wird ein äusserst hartes Ringen und ein sehr dynamischer Verhandlungsprozess mit offenem Ausgang.
Solche Auseinandersetzungen gehören zur Demokratie. Könnte man so gesehen dem anhaltenden Streit um die Führung der Europäischen Kommission auch etwas Positives abgewinnen?
Es wäre ja eine Mehrheitsentscheidung möglich gewesen: Hätten die Regierungschefs sich für Frans Timmermans entschieden, wäre der Konflikt mit dem Parlament vermieden worden – dafür wäre der Zwist mit den osteuropäischen Ländern gewachsen. Man darf nicht vergessen, dass die Suche nach einem Kompromiss der Versuch ist, die EU zusammenzuhalten, die derzeit von Fragmentierung und Interessensgegensätzen geprägt ist, insbesondere zwischen West- und Osteuropa. Da werden in den nächsten Jahren noch viele Kompromisse nötig sein – die man den Wählern erklären muss.
Wenn CSU-Chef Söder von einer "Niederlage der Demokratie" spricht, muss man sagen, dass er mit der Festlegung auf Manfred Weber als Kommissionspräsident alles getan hat, um das Problem zuzuspitzen. Er kommt also zu einem Befund, den er selbst semantisch mit herbeigeführt hat.
Dagegen hat Frau Merkel das Problem immer gespürt – sie hat das Spitzenkandidaten-Prinzip von Anfang an nicht als Monstranz vor sich hergetragen und sich damit eine gewisse Flexibilität erhalten.
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