Für ihre Haltung in der Flüchtlingsfrage muss sich Kanzlerin Angela Merkel derzeit einiges anhören - auch von Parteikollegen. Ihre Position ist geschwächt, aber vor einem Aus als Kanzlerin steht Merkel deswegen wohl nicht.
Es soll turbulent zugegangen sein bei der gestrigen Fraktionssitzung. Teilnehmer sprachen Medienberichten zufolge von einem "denkwürdigen" Treffen, bei dem
Einige aktuelle Umfragen dürften jedoch zumindest bei manchem Abgeordneten Anlass zu der Sorge gegeben haben, die Partei könne ihren Vorsprung gegenüber der Konkurrenz und Wählerstimmen an die rechtskonservative Alternative für Deutschland (AfD) verlieren. Laut dem Stern-RTL-Wahltrend kommt die CDU/CSU in dieser Woche auf 38 Prozent - das ist ihr niedrigster Wert in diesem Jahr. Schwächen diese Werte und die Kritik aus den eigenen Reihen Merkels Position so sehr, dass sogar ein vorzeitiges Ende ihrer Kanzlerschaft droht?
Geschwächt, aber nicht am Ende
Der Politologe Carsten Koschmieder von der Freien Universität (FU) Berlin findet nicht: "Ihre Position ist sicher geschwächt, aber sie steht nicht etwa kurz vor einem Rücktritt oder dem Aus als Kanzlerin." Zwar gebe es wohl bei einigen Abgeordneten die Befürchtung, dass Merkel und die Partei an Zustimmung und sie bei den nächsten Wahlen möglicherweise ihren eigenen Posten verlieren könnten. "Man muss aber auch sehen: Es hat schon des Öfteren innerparteiliche Kritik an ihrer Linie gegeben - etwa bei der Energiewende." Solange die Umfragewerte stimmten, sei diese Kritik nach und nach auch wieder leiser geworden.
Man müsse den Abgeordneten nicht einmal Kalkül unterstellen, so Koschmieder weiter. "Angela Merkel mutet ihrer Partei gerade eine grosse Aufgabe zu und es ist nur natürlich, dass Abgeordnete ihre Meinung zu diesem Thema sagen und der Kanzlerin deutlich machen, dass viele an der Parteibasis ihre Politik nicht mittragen können."
Keine Alternative zu Merkel
Merkels grosser Trumpf war bislang ihre grosse Beliebtheit in der Bevölkerung. Die scheint derzeit etwas zu schwinden. Sie hat aber noch einen weiteren Vorteil. "Im Moment hilft ihr noch, dass die CDU keine Alternative zu ihr als Kanzlerin hat", sagt Werner Patzelt, Leiter des Lehrstuhls für Politische Systeme und Systemvergleich an der Technischen Universität (TU) Dresden.
Patzelt sieht Merkel derzeit "in der grössten Krise ihrer Kanzlerschaft" - und er glaubt, dass diese Krise sie auch so schnell nicht wieder loslassen wird: "Wenn sich im Winter zeigen sollte, dass 'wir' es eben nicht schaffen, wie die Kanzlerin gesagt hat, wenn also Asylbewerber erfrieren sollten, sie gegen ihre Unterbringung protestieren oder es anhaltende Konflikte unter den Asylbewerbern sowie zwischen ihnen und Anwohnern geben sollte, dann wird ihr nur eines ihrer bekannten Wendemanöver helfen." Etwa, indem sie dann sage: 'Ich habe alles versucht, ich stand eigentlich für Offenheit - aber wir sehen, dass es eben doch nicht ohne Obergrenzen geht!'.
Um wieder mehr Rückhalt in der Union zu bekommen, müsste sie, so Patzelt, Zugeständnisse machen - allerdings nicht öffentlich. "Sie könnte Kanzleramtsminister Peter Altmaier beauftragen, in Absprache mit den Innenministern - und möglichst unter der Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit - solche Massnahmen durchzusetzen, die ihre so oft bekundete Haltung grundsätzlicher Offenheit konterkarierten." Also etwa eine schnelle Rückführung zeitnah abgelehnter Asylbewerber samt wirkungsvollen Grenzkontrollen.
Aus Carsten Koschmieders Sicht wird vor allem wichtig sein, dass Merkel der Öffentlichkeit vermitteln kann, dass sie mit ihrer Flüchtlingspolitik richtig liegt. "Dass sie das Flüchtlingsthema bewältigen kann. Dann gehen die Umfragewerte wieder nach oben und die Kritiker werden wieder leiser".
Unterstützerbrief für Merkel von CDU-Politikern
Neben lautstarken Kritikern in den Reihen ihrer Partei gibt es im Übrigen auch lautstarke Befürworter von Merkels Linie. Unter dem Motto "Wir schaffen das!" haben 120 CDU-Politiker - darunter der frühere Generalsekretär Ruprecht Polenz und der ehemalige CDU-Chef von Schleswig-Holstein, Christian von Boetticher, einen offenen Brief geschrieben. Darin heisst es laut dpa unter anderem: "Stacheldraht ist keine Lösung für Menschen, die in grösster Not ihr Land verlassen haben. Wir brauchen keine neuen Mauern, sondern mehr Gerechtigkeit und Solidarität weltweit."
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