Reisende im Stau, Anwohner vor dem Nervenzusammenbruch, Unternehmer unter Druck - die Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich erhitzen die Gemüter. Fest steht: Sie funktionieren. Doch der Preis ist hoch, auch wenn sich die Lage teils entspannt hat.

Mehr aktuelle News

Die Stauwarnung ist schon raus, der österreichische Automobilclub hat sie auf seiner Webseite ausgegeben. Wenn am Sonntag die Rückreisewelle aus den Winterferien anrollt, wird der Verkehr an den Autobahnübergängen von Österreich Richtung Deutschland stocken, vor allem am Walserberg und in Kufstein.

Auf den Nebenstrecken werden sich dann wieder die Autokolonnen durch die engen Strassen von Städtchen wie Oberaudorf, Ebbs und Kiefernfelden schlängeln – um die Autobahnmaut zu umgehen, aber auch die Grenzkontrollen, die seit September 2015 auf der Autobahn permanent eingerichtet wurden.

Mit der Flüchtlingskrise begründete Innenminister Thomas de Maizière damals die Aussetzung des Schengen-Abkommens, das Reisefreiheit innerhalb der EU vorsieht. Brüssel verlängerte die Ausnahmegenehmigung zuletzt bis Mai dieses Jahres, schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Kontrollen darüber hinaus weitergehen.

Ein Ende der Staus ist also nicht abzusehen. Und der Verkehr ist nicht das einzige Ärgernis: Unternehmer in der Region klagen seit Beginn der Massnahmen über Umsatzeinbussen, Spediteure über lange Wartezeiten an der Grenze.

Die Think Tanks der Wirtschaft beziffern die gesellschaftlichen Kosten der Grenzkontrollen mit Milliardensummen. Was also bringt die Aussetzung von Schengen? Und rechtfertigt das die Kosten? Die Antwort hängt stark von der Perspektive ab.

Die Polizei feiert ihre Erfolge

Für die Polizei ist die Antwort auf diese Frage denkbar einfach: Sie darf sich seit Beginn der permanenten Kontrollen mit Fahndungserfolgen brüsten. Die Statistik rechtfertig die Massnahmen, sagt Polizeisprecher Rainer Scharf von der Bundespolizei Rosenheim.

Seit Beginn 2017 registrieren die Beamte stabil rund 1.000 bis 1.200 Personen pro Monat, die unerlaubt die österreichisch-deutsche Grenze übertreten, im Januar 2018 waren es 1.100 Menschen. Wer von der Polizei aufgegriffen wird, muss zu einer grenzpolizeilichen Befragung.

Stellt sich heraus, dass eine Person nicht um Asyl ansuchen will, verweigern die Beamten die Einreise und fahren sie nach Österreich zurück. Das war 2016 in rund der Hälfte der Aufgriffenen der Fall: Von 14.630 sogenannten illegal Einreisenden wurden 52 Prozent zurückgewiesen. Den Rest überstellt die Polizei an das Bamf für das Asylverfahren.

Bis zu 30 Schlepper nimmt die Polizei pro Monat fest, aber nicht nur das – auch Drogenschmuggler, Autoschieber oder flüchtige Straftäter landen quasi als Beifang in den Netzen der Beamten. "Das erklärt sich von allein", sagt Rainer Scharf von der Bundespolizei Rosenheim im Gespräch mit diesem Portal.

"Wir bekommen bei den permanenten Kontrollen einfach mehr mit, schauen hier und da genauer hin." Die Polizei spricht in solchen Fällen von "Holkriminalität": Je mehr Autos die Beamten durchsuchen, umso mehr Päckchen mit Cannabis finden sie, umso mehr Menschen ohne gültige Papiere, umso mehr fahruntaugliche Reifen.

Steigende Kriminalitätszahlen müssen vor diesem Hintergrund mit Vorsicht betrachtet werden: Sie bedeuten nicht unbedingt, dass die Kriminalität wächst – eher wird das Dunkelfeld kleiner.

Der Kriminalitätsforscher Andreas Pudlat von der Universität Hildesheim kennt solche Fahndungserfolge auch von anderen Ausnahmen von Schengen, etwa bei der Fussball-WM oder beim G20-Gipfel. "Es gab schon vor Schengen ein Schlagwort: Innere Sicherheit beginnt an der Grenze."

Was kosten geschlossene Grenzen?

Pudlat forscht intensiv zu Geschichte und Gegenwart des Schengen-Prozesses. Die Idee der offenen Grenzen, erklärt er, war anfangs ein Eliten-Projekt - angestossen durch die Frage, wie man den Bürgern die europäische Idee nahebringen und wie man den Interessen der Wirtschaft Rechnung tragen kann, die Zölle und Grenzverkehr als Handelshindernis ablehnte.

"Schengen wurde von oben herab initiiert", sagt Pudlat, "wurde dann aber zu einer gelebten Selbstverständlichkeit". Das erste Abkommen trafen Deutschland, Frankreich und die Benelux-Länder 1985, seit 1999 gehören Staaten mit dem EU-Beitritt automatisch auch Schengen an.

Im Laufe der Jahrzehnte gewöhnten sich Bürger daran, ohne langwierige Kontrollen quer durch Europa zu reisen, die Unternehmer schicken ihre Waren ohne Hindernisse über den Kontinent.

Nicht zufällig war es die Wirtschaft, die am lautesten gegen die Grenzkontrollen protestierte. Die Wirtschaftskammer Österreich sprach von Mehrkosten von 1,2 Milliarden pro Jahr im Warenverkehr, die Industrie- und Handelskammer Oberbayern von einer "Katastrophe" für die Wirtschaft, die auf Just-in-Time-Produktion und pünktliche Lieferungen im gesamten europäischen Transitraum eingestellt sei.

Die Bertelsmann-Stiftung warnte vor Kosten von 77 bis 235 Milliarden Euro bis 2025, sollte Schengen ausgesetzt werden. Zahlen, die das Ifo-Institut in München als "übertrieben" wertete. In einer Untersuchung zu den Handelseffekten von Grenzkontrollen bezifferten Forscher die Kosten auf 17 bis 132 Euro jährlich pro Einwohner.

Allein bei Kontrollen nur an der Grenze zu Österreich könnte Deutschland pro Jahr zwischen 770 Millionen und 1,9 Milliarden Euro des Bruttoinlandsproduktes verlieren. Auf der anderen Seite errechneten die Forscher für Österreich BIP-Verluste von zwischen 460 Millionen und 1,14 Milliarden Euro.

Insgesamt, schlussfolgert das Ifo-Institut, seien die Kosten überschaubar, verglichen mit den Folgekosten der Flüchtlingskrise. Auf den ersten Blick leuchtet das ein – andererseits bedeuten Grenzkontrollen aber auch nicht, dass die Zuwanderung komplett gestoppt werden würde. Und offene nicht, dass "Illegale" nicht innerhalb des Landes aufgegriffen werden können.

Schwierige Arithmetik

Schengen-Forscher Andreas Pudlat von der Universität Hildesheim betrachtet solche Studien mit einiger Skepsis. "Eine genaue Kosten/Nutzenrechnung ist nicht möglich", sagt er. "Die Folgekosten für den Staat sind nur sehr schwer zu beziffern, für die Wirtschaft ist es umso schwieriger."

Aus einsatztaktischen Gründen verweigert die Polizei etwa eine Auskunft, wie viele Beamte für die Grenzkontrollen eingesetzt werden, schon eine Abrechnung der Einsatzkosten wird also schwierig – ganz abgesehen von den Kosten für Prozesse wegen Kleinstdelikten, die als Beifang registriert werden.

Und völlig abgesehen von der Frage, wie man berechnen will, was offene Grenzen wirklich kosten. Zumal "Kosten" ja nahelegen, das Geld einfach verschwindet. Tatsächlich erhöhen sich erst einmal die Ausgaben, die ja rein theoretisch auch sinnvoll gegenfinanziert werden können.

Mit wirklich belastbaren Zahlen können auch die Wirtschaftsverbände nicht aufwarten. Am ehesten wissen die Unternehmer in der Grenzregion, was die Kontrollen sie kosten.

Georg Dettendorfer etwa, Spediteur in Oberbayern und Vizepräsident der IHK Oberbayern und München. Er weiss, dass er im Schnitt pro Grenzübertritt seiner Lkws zehn bis 15 Minuten Stehzeit einkalkulieren muss. Im September 2015 war es noch rund eine halbe Stunde, die Lage hat sich also etwas entspannt.

"Aufwand und Transportpreise sind gestiegen"

Die Polizei hat mittlerweile die Infrastruktur für die Kontrollen eingerichtet, meist sind zwei Kontrollspuren geöffnet. "Wir haben uns dann schon bei der Politik beschwert, wenn mal wieder ein Stau war, weil es nur eine Kontrollspur gab", sagt Dettendorfer im Gespräch mit diesem Portal. "Das hat schon etwas gebracht."

Genaue Zahlen zu den Auswirkungen hat auch die IHK nicht, sagt der Spediteur. "Aber mein Gefühl ist: Der Warenverkehr ist nicht weniger geworden, aber der Aufwand und die Transportpreise sind gestiegen."

Er spricht auch die Kontrollen im Zugverkehr an, die für massive Verzögerungen sorgen und eine Entlastung des Strassenverkehrs erschweren. Das Transportwesen hat zu allem Überfluss nicht nur mit den Grenzkontrollen zu kämpfen. Deutschland und Österreich streiten um den Transitverkehr auf der Brenner-Route, der besonders Tirol stark belastet.

Tirol fertigt die Lkws an der Grenze nach Feiertagen nur noch en bloc ab, was für lange Staus sorgt, Bundesverkehrsminister Norbert Hofer denkt laut über eine Fahrverbot für Lkws ab einer Million jährlicher Durchfahrten nach.

"Es bleibt ein negativer Beigeschmack"

Auf österreichischer Seite befürchteten die Touristiker einen Einbruch der Tagesbesuche von deutschen Skifahrern - eine berechtigte Angst, sagt Hotelier Albert Ebner, Spartenchef Tourismus der Wirtschaftskammer Salzburg: "Gerade in den kleinen Skigebieten sieht man weniger Kennzeichen aus Deutschland."

Auch ihm fehlen handfeste Statistiken, auch er argumentiert mit einem Bauchgefühl das ihn befällt, wenn ihm deutsche Gäste erzählen, dass sie auf der Rückreise wieder eine Stunde im Stau standen: "Vielleicht gibt das nicht den Ausschlag, ob sie wiederkommen, aber es bleibt ein negativer Beigeschmack."

Den haben auch die Bewohner der Grenzregion - besonders an reisestarken Tagen, wenn die Autos die Ausweichrouten verstopfen. Gemeinden beiderseits der Grenze schrieben vor einigen Tagen einen Brandbrief an die Verkehrsminister Deutschlands und Österreichs.

"Schengen bleibt ein Spielball"

Der Tenor: Wir halten es nicht mehr aus. Im Sommer reichte es den Bewohnern von Salzburg-Wals, einige Hundert blockierten kurzerhand eine Strasse.

Sie tragen die offensichtliche Last in einer Frage, die letztlich politisch entschieden werden muss: Was will eine Gesellschaft für die Sicherheit und die Abwehr von illegaler Migration investieren, wie viel Freiheit will sie aufgeben?

"Es wäre die Aufgabe der Politik, das auszutarieren", sagt Schengen-Forscher Andreas Pudlat. "Sie tut es nicht." Im Moment dominiere eine stark juristische Perspektive. "Die Politik zieht sich zurück, und so bleibt Schengen ein Spielball. Auch, weil es in der heutigen Medienwelt schwer möglich ist, so emotionale Themen wie Sicherheit in Ruhe auszuhandeln."

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.