Indien ist die weltweit am schnellsten wachsende Volkswirtschaft und macht keinen Hehl aus seinem Grossmacht-Anspruch. Unterschätzen wir Indiens Rolle auf der Weltbühne und ist das Land als Partner für den Westen vielleicht sogar attraktiver als China? Wir haben einen Experten dazu befragt.
Einst galt es als "Jewel in the Crown" - als Kronjuwel der britischen Kolonialmacht. Billige Arbeitskräfte und reichhaltige Ressourcen machten Indien zur wertvollsten britischen Kolonie. 70 Jahre nach seiner Unabhängigkeit ist Indien auf dem Sprung zum eigenständigen Schmuckstück.
Die nackten Zahlen sind beeindruckend: Mit 1,34 Milliarden Menschen leben bereits heute 17,8 Prozent der Weltbevölkerung in Indien. Bei einem gleichzeitigen Wachstum von jährlich mehr als einem Prozent ist Indien im Begriff, China von Platz 1 der bevölkerungsreichsten Länder zu verdrängen - dort leben aktuell 1,39 Milliarden Menschen.
Wachstumsrate von über 7 Prozent
Nicht nur in diesem Bereich ist Indien auf dem Vormarsch: Es ist auch die weltweit am schnellsten wachsende Volkswirtschaft. 2018 lag das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei 2,7 Billionen US-Dollar, für 2019 prognostiziert der Internationale Währungsfonds (IWF) ein weiteres Wachstum von 7,3 Prozent; bis 2022 dürfte das BIP auf 3,9 Billionen Dollar steigen. Zum Vergleich: Chinas Wachstum lag zuletzt bei 6,6 Prozent, das von Deutschland bei 1,5.
Indien ist die grösste Demokratie der Welt. In den Parlamentswahlen im Mai, aus denen Narendra Modi als Gewinner hervorging, waren 900 Millionen Menschen wahlberechtigt.
Angesichts dessen stellt sich die Frage: Wird Indien international unterschätzt? Asien-Experte Bernt Berger von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) sagt: "Die Zahlen sind beeindruckend, aber wir müssen hinter die Kulisse blicken."
Konkret: "Ja, Indien wird China in puncto Bevölkerungsgrösse überholen. Aber das Wachstum ist eher eine Bürde als eine Chance und verschärft die Armut", so Berger. Aktuell leben zwei Drittel aller Menschen in Indien in Armut, sie müssen mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen. Auch die Lebenserwartung spiegelt die prekäre Lage wieder: 69,1 Jahre in Indien, 75,8 Jahre in China.
Mängel im Bildungssystem
Der Wohlstand, den die Wachstumsraten versprechen, kommt bei der Bevölkerung nicht an. "Indien zählt zu den grössten Dienstleistungsexporteuren, setzt auf Industrie 4.0 und Software-Sektor. Im Bereich Digitalisierung gibt es grosses Potenzial, viele deutsche Firmen investieren", beobachtet der Experte.
Allerdings sei Indien "nicht im Hightech-Sektor unterwegs, sondern bei weniger entwickelten Technologien", so Berger. China sei deutlich besser aufgestellt. "Indien kann den eigenen Markt bedienen, aber für internationale Konkurrenz braucht es ein besseres Bildungssystem und mehr Innovation."
Wolfgang Zingel vom Südasien-Institut der Universität Heidelberg macht auf einen weiteren Punkt aufmerksam, er schreibt in der Zeitschrift "Forschung und Lehre": "Weil es für die zunehmende Zahl der Arbeitskräfte auf dem Land keine Erwerbsmöglichkeiten gibt, verzeichnet das Land eine rapide Landflucht." Indiens Megastädte gehörten zu den grössten der Welt, sie stünden immer wieder kurz vor dem Verkehrsinfarkt.
Christian Wagner (Stiftung Wissenschaft und Politik) urteilt im Interview mit dem "Tagesspiegel": "Das Land verfügt nicht über die Instrumente, um den globalen Anspruch, den die Führung Indiens durchaus immer wieder formuliert, tatsächlich umzusetzen." Grossmacht-Ambitionen kämen zusammen mit den Ressourcen einer Mittelmacht.
In der Landwirtschaft sei Modi, der das Land seit 2014 führt, hinter seinen Versprechen zurückgeblieben, ergänzt Berger: "Er hat eine landwirtschaftliche Revolution angekündigt, aber de facto ist das Wachstum hier zurückgegangen."
Attraktiver Partner für den Westen?
Somit bleibt Indien trotz seiner hohen Wachstumsraten weit hinter den grössten Volkswirtschaften USA (BIP von etwa 20 Billionen Dollar) und China (knapp über 12 Billionen) zurück. "Es gibt bereits europäische Firmen, die Indien wieder verlassen, weil ihnen Qualität, Organisation und rechtliche Standards nicht genügen", weiss Experte Berger.
Zingel dazu: "Das Verhältnis von Wirtschaft und Staat ist immer noch von einem starken Interventionismus gekennzeichnet." Weite Bereiche der Wirtschaft seien Staatsunternehmen vorbehalten, andere der Heimindustrie. Ebenso griffen Arbeitsschutzbestimmungen nur für einen Bruchteil aller Erwerbstätigen - nämlich Staatsbediensteten und registrieren Betrieben mit mehr als zehn Beschäftigten.
"Indien will als grosse Demokratie dastehen und seine Attraktivität für Partnerschaften mit dem Westen erhöhen", so Berger. In diplomatischen Kampagnen betone man gemeinsame Werte. Indien verbreitet auch das Narrativ eines "freien und offenen Indopazifiks" - der regionalen Zusammenarbeit mit Australien, Japan und den USA, wobei China aussen vor bleibt.
"Wir dürfen dem Narrativ der Demokratie nicht einfach glauben", warnt Berger. In Sachen Demokratie finde in Indien derzeit eine Zäsur statt. "Die BJP-Regierung bricht mit Grundprinzipien. Rechte der religiösen und ethnischen Minderheit werden teils missachtet, die Partei zielt auf die Herrschaft der Hindus ab", führt Berger aus. "Der Westen muss genau gucken, ob demokratische Werte auch gelebt werden", so Berger.
Letztlich: "In China gibt es, anders als in Indien, ein viel grösseres Bewusstsein für Umweltzerstörung und soziale Kosten. Wer 2050 wo steht, hängt massgeblich vom Umgang mit diesen Herausforderungen ab", so Berger.
Verwendete Quellen:
- www.wko.at: "Statistische Daten (Bevölkerung, BIP, Lebenserwartung, Armut)"
- www.ze.tt.de: "Das sind 2017 die am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften"
- www.sos-kinderdoerfer.de: "Armut in Indien"
- Interview mit Christian Wagner, Publikationen von Wolfgang Zingel
- www.tagesspiegel.de: "Globale Ambitionen - zu wenig Ressourcen"
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