Grossbritannien verlässt die Europäische Union. In Deutschland halten das die meisten für ein historisches Eigentor der Briten. Doch es könnte mit einer Liberalisierungspolitik auch ein Überraschungserfolg werden - und der Anfang vom Ende der EU.
Seit dem 1. Februar ist Grossbritannien kein EU-Mitgliedsstaat mehr. In Deutschland ist die Kommentarlage noch mehrheitlich so: die Briten begehen einen historischen Fehler, der ihnen schweren Schaden zufügt, der Brexit sei ein brachiales Eigentor.
Doch aus britischer Sicht könnte der Brexit auch einen gewaltigen Konter ermöglichen.
Tatsächlich hat er einen Plan: Johnson will eine umfassende Liberalisierung der britischen Wirtschaft mit viel weniger Regulierung und möglichst niedrigen Steuern.
In Brüssel kursiert bereits die Sorge vor einem "grossen Singapur in der Nordsee", also einem Steuerparadies mit niedrigen Sozial- und Umweltstandards sowie gezielten Anreizen, um Finanzkonzerne, Forschung und multinationale Unternehmen anzulocken.
Brexit: "Ab kommender Woche wird Grossbritannien den Steuerwettbewerb suchen"
Die deutsche Wirtschaft ist plötzlich alarmiert, London könnte damit systematisch deutsche Unternehmen abwerben. Clemens Fuest, Präsident des Wirtschaftsforschungsinstitut ifo in München, meint "Grossbritannien könnte verstärkt gezielte, auf einzelne Unternehmen oder Sektoren zugeschnittene steuerliche Anreize setzen." Das Land sei ab sofort nicht mehr der EU-Subventionskontrolle unterlegen. Premier Johnson hat dies bereits angekündigt.
Sowohl bei der Regulierung, bei der Forschungsförderung als auch bei Steuern kann London nun offensiv seinen Standort attraktiver machen. "Bereits ab der kommenden Woche wird das Vereinigte Königreich den Steuerwettbewerb mit Deutschland und Europa suchen", warnt Joachim Lang, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI).
Auch beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schlägt man Alarm: "Angesichts der Unsicherheiten ist es für Grossbritannien sinnvoll, die Unternehmensteuern weiter zu senken, um den Standort attraktiv zu halten", prophezeit DIW-Steuerexperte Stefan Bach.
Deutschland hat schlechte Karten im Steuerwettbewerb
Deutschland gerät also schlagartig in einen aggressiven Steuerwettbewerb - und die deutschen Karten dabei sind schlecht. Denn schon jetzt zahlen deutsche Unternehmen und Arbeitnehmer die höchsten Steuern der Welt.
In England hingegen müssen Unternehmen bereits heute nurmehr 19 Prozent Steuern auf ihren Gewinn zahlen. Johnson will die neue Steuerfreiheit weiträumig nutzen. "Keine Mehrwertsteuer mehr auf Binden und Tampons", ist eines seiner Lieblingsbeispiele. "Wir können die Mehrwertsteuer auf Hygieneartikel streichen, ohne uns Sorgen zu machen, was Brüssel dazu meint." Und so werde man es in allen Lebensbereichen halten.
Schatzkanzler Sajid Javid soll am 11. März einen Reformhaushalt vorlegen, und Johnson unkt bereits voller Vorfreude: "Der Kanzler wird jede Menge Berechnungen machen, und es wird ein sehr aufregender Haushalt."
"Muscles without Brussels" (Muskeln ohne Brüssel) triumphiert die Boulevardzeitung "The Sun" bereits. Ein "glorreiches neues Grossbritannien" ruft auch der "Daily Express" aus. "Gut gemacht, britisches Volk – endlich draussen", titelt der "Daily Telegraph".
"Gefühlter Erfolg" des Brexit kann EU gefährlich werden
In Brüssel dämmert es jetzt den Ersten, dass der Brexit für die EU noch ein gewaltiges strategisches Problem bedeuten könnte. Der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, sieht akute Gefahren für die gesamte Europäische Union.
"Wenn der Brexit gefühlt ein Erfolg wird, dann ist er der Anfang vom Ende der EU", warnt der CSU-Politiker ungewohnt dramatisch. Sollte Grossbritannien mit seiner Singapur-Strategie Erfolg haben, dann könne der Brexit zum Stichwortgeber für EU-Skeptiker wie Marine Le Pen in Frankreich oder Viktor Orban in Ungarn werden.
Aber auch in Deutschland könnten die EU-kritischen Kräfte an Stärke gewinnen, sollte das Brexit-Experiment erfolgreich verlaufen, insbesondere weil Deutschland nun ganz alleine der mit Abstand grösste Nettozahler wird.
Die Briten waren bislang ebenfalls ein grosser Nettozahler der EU - mit etwa 9 Milliarden Euro im Jahr. Dieses Geld sparen sich die Briten nun. Zudem müssen sie nicht mehr haften und zahlen für etwaige EU-Rettungsschirme.
Brüssel im Dilemma
Auch die Lasten der Migration wird Grossbritannien nun nicht mehr gemeinschaftlich tragen, die Zuwanderung wird deutlich restriktiver gesteuert als bislang. Johnson plant ein strenges Zuwanderungsmodell nach australischem Vorbild. "Wir holen uns die Kontrolle über unsere Grenzen zurück und wir werden einen grossen Aufschwung erleben", frohlockt Johnson.
Johnsons Optimismus beruht freilich darauf, dass man mit der EU im Jahr 2020 zu einem weitreichenden Freihandelsabkommen kommt. Das liegt auch im Interesse der EU, vor allem dem exportstarken Deutschland.
Für Brüssel entsteht daraus ein Dilemma. Einerseits will man für die eigene Wirtschaft dringen möglichst viel Freihandel. Andererseits kann man England kaum alle Vorteile einer Freihandelszone gewähren, denn dann würde der Austritt doppelt belohnt. London hätte alle Vorteile, aber keine Gemeinschaftslasten mehr zu tragen. Singapur lässt grüssen.
Was kommt nach dem Brexit? Fragen und Antworten
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