Unter dem neuen Premierminister Boris Johnson steigt bei vielen die Befürchtung, dass ein Ausscheiden der Briten aus der Europäischen Union unvermeidbar ist - mit schlimmen Konsequenzen für alle Beteiligten.
Deutsche und britische Unternehmen fürchten sich zunehmend vor den schweren Folgen eines drohenden Brexits ohne Abkommen. Nach Angaben des britischen Industrieverbandes CBI sind weder Grossbritannien noch die EU ausreichend auf einen ungeregelten Austritt vorbereitet. Weitere Firmen drohten mit einem Rückzug aus dem Vereinigten Königreich. Europas grösster Billig-Flieger Ryanair macht auch das Brexit-Wirrwarr für Einbussen verantwortlich.
Boris Johnson will Brexit um jeden Preis
Der neue Premierminister
Johnson installierte eine sechsköpfige Gruppe von Konservativen, die sich auch um Vorkehrungen für den No-Deal-Fall kümmern soll. Dazu gehören - neben Johnson - unter anderem Finanzminister Sajid Javid, Aussenminister Dominic Raab und Brexit-Minister Stephen Barclay. Britische Medien bezeichneten die Gruppe als "Kriegskabinett".
Massive Exporteinbussen
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) hält angesichts der Brexit-Unsicherheit einen Einbruch der deutschen Exporte nach Grossbritannien für möglich. DIHK-Präsident Eric Schweitzer sagte der Deutschen Presse-Agentur in Berlin: "Ein No-Deal-Szenario wäre die schlechteste Option für die deutsche Wirtschaft. Belastend wären vor allem hohe Zölle. Grossbritannien hat als Handelspartner für die deutschen Unternehmen bereits deutlich an Bedeutung verloren."
Der DIHK erwartet, dass das deutsch-britische Handelsvolumen weiter sinkt. "Wir halten im Gesamtjahr einen Rückgang der deutschen Exporte nach Grossbritannien von sogar bis zu zehn Prozent für möglich", sagte Schweitzer. Von Januar bis Mai hatten deutsche Firmen Waren im Wert von rund 35 Milliarden Euro nach Grossbritannien geliefert. Das waren 2,4 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Die Importe aus Grossbritannien sanken noch deutlich stärker.
Lieferengpässe drohen
"Die Unsicherheit der Unternehmen ist grösser geworden", berichtete Ulrich Hoppe von der deutsch-britischen Industrie- und Handelskammer (IHK) in London. "Es kommen jetzt vermehrt Anfragen von deutschen Unternehmen", sagte der Hauptgeschäftsführer der dpa.
Bei einem EU-Austritt ohne Abkommen rechnen Experten unter anderem mit langen Wartezeiten an Grenzen, Lieferengpässen etwa für Medikamente, Obst und Gemüse sowie Mangel an Lagerkapazitäten.
Viele Unternehmen nicht ausreichend vorbereitet
"Unklare Empfehlungen, Zeitpläne, Kosten und die Komplexität" des Brexits behinderten die Vorbereitungen vieler britischer Firmen auf einen möglichen No Deal, teilte der Verband CBI (Confederation of British Industry) nach einer Befragung von mindestens 50 Wirtschaftsvereinigungen und Tausenden von Unternehmen mit. Viele grössere Unternehmen, etwa im Finanzwesen, haben demnach Pläne - doch seien kleinere Firmen weniger gut vorbereitet. Zu den No-Deal-Vorbereitungen der EU hiess es: "Die EU bleibt noch hinter Grossbritannien in den Bemühungen zurück, die schlimmsten Effekte eines No-Deal-Szenarios zu verhindern."
EU hofft auf geordneten Brexit
Eine Sprecherin der EU-Kommission wies zu den CBI-Äusserungen darauf hin, dass die EU nicht dafür verantwortlich ist, britische Unternehmen vor den Folgen eines ungeregelten Brexits zu schützen. "Unsere Vorbereitungen auf einen No Deal schützen die EU und unsere Interessen", sagte sie. Auf EU-Seite seien für den Fall der Fälle bereits 19 Gesetzespakete, 63 andere Rechtsakte und 100 Vorbereitungspapiere beschlossen worden. Nichtsdestotrotz sei man aber weiter der Ansicht, dass ein geordneter Brexit das beste für beide Seiten sei. Dafür setze man sich ein.
Der Generaldirektor des Industrieverbands BusinessEurope kommentierte: "Niemand kann vollständig auf einen No-Deal-Brexit vorbereitet sein - und das ist der Grund, warum die Wirtschaft in der EU und im Vereinigten Königreich ganz entschieden dagegen ist." Notfallmassnahmen könnten keinen Deal ersetzen, sondern nur negative Auswirkungen eines No Deals abschwächen.
PSA erwägt Werkschliessung
Wie Konsequenzen für Grossbritannien aussehen könnten, sagte der Chef des französischen Peugeot-Herstellers PSA, Carlos Tavares. Er wolle zwar das Astra-Nachfolgemodell für die Konzernmarken Opel und Vauxhall in der Fabrik Ellesmere Port bauen, aber bei schlechten Rahmenbedingungen werde er es nicht machen, sagte Tavares der britschen Wirtschaftszeitung "Financial Times" vom Montag. "Wir haben eine Alternative für Ellesmere Port." Das Unternehmen müsse wissen, was im Oktober passiere, etwa bei den Zöllen, forderte Tavares.
Ryanair verzeichnet weniger Gewinn
Der Brexit-Wirrwarr und ein harter Preiskampf in Deutschland haben auch Europas grösstem Billigflieger Ryanair im ersten Geschäftsquartal einen Gewinneinbruch eingebrockt. In den Monaten April bis Juni verdiente das irische Unternehmen 243 Millionen Euro und damit 21 Prozent weniger als ein Jahr zuvor, wie es in Dublin mitteilte.
Angesichts der Unsicherheiten musste das britische Pfund weitere Kursverluste hinnehmen. Im Vergleich zum US-Dollar ging es um ein Prozent nach unten auf den niedrigsten Stand seit Frühjahr 2017. (mss/dpa)
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