- Grossbritanniens Premierminister Boris Johnson hat zum Jahreswechsel auf seine Erfolge verwiesen im Jahr eins nach dem Austritt seines Landes auch aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion.
- Experten zeichnen allerdings ein weit weniger positives Bild.
- Auch die Mehrheit der Briten sieht das so – sie fühlt sich von Johnson hintergangen.
Viele Briten werden spätestens am 31. Dezember 2020 gedacht haben: Die Sache mit dem Brexit ist durch. Schliesslich war Grossbritannien bereits elf Monate zuvor offiziell aus der Europäischen Union ausgetreten, vor einem Jahr endete schliesslich auch die Übergangsphase und damit die Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt und der Zollunion.
"Wir halten unsere Freiheit in unseren Händen und es liegt an uns, das Beste daraus zu machen", sagte
Johnson betonte, die Arbeit sei noch nicht beendet. "Im neuen Jahr wird meine Regierung weiter und schneller voranschreiten, um das Brexit-Versprechen einzulösen und das enorme Potenzial zu nutzen, das unsere neuen Freiheiten mit sich bringen."
Die Bürger haben bisher statt mehr Freiheit aber vor allem Ärger gespürt: In Supermarktregalen klafften Lücken und Tankstellen sassen zeitweise auf dem Trockenen, weil Lastwagenfahrer fehlten. Nach wie vor wird um Fischereirechte und den Umgang mit Nordirland und dortigen Grenzkontrollen gestritten. 57 Prozent der Befragten einer am Montag veröffentlichten repräsentativen Umfrage im Auftrag der britischen Nachrichtenseite "The Independent" erklärten, Johnson habe sie während der Referendumskampagne 2016 über den Brexit belogen. 51 Prozent beklagten sich, dass sich der Zugang zu Waren und Dienstleistungen verschlechtert habe und 45 Prozent über grösser gewordene Bürokratie.
Das heisst: Die Versprechen der Brexit-Befürworter wie Johnson haben sich nicht erfüllt. Die öffentliche Meinung hat sich gedreht, mittlerweile meint selbst ein grosser Anteil von "Leave"-Wählern laut einer Erhebung der "Mail on Sunday", dass der Brexit keine gute Idee war.
Johnsons "Schlüsselerfolge": Rückkehr Pfund, Unzen und Kronen auf Pints
Experten zeichnen ebenso wenig ein positiv Bild – anders als Johnson. "Seine Vermeidung der vielen Schwierigkeiten, Knackpunkte und Kosten deutet darauf hin, dass Grossbritannien noch weit entfernt ist von einer ausgewogenen und wohlüberlegten Debatte über die Gestaltung der Beziehungen zur EU", sagte der Politologe Simon Usherwood von der Open University der Deutschen Presse-Agentur. Denn der Brexit ist noch längst nicht "done", erledigt, wie Johnson selbst indirekt einräumte.
Bezeichnend für das Agieren des Premiers ist die Wiedereinführung alter Eich- und Gewichtsmasse. Johnson feierte die Rückkehr der Crown Stamps auf Biergläsern und die Abschaffung des Verbots, Waren in Pfund und Unzen zu verkaufen, als seine "Schlüsselerfolge" des Brexit im vergangenen Jahr.
"Wenn Kronen auf Pint-Gläsern wichtiger sind als der Status Nordirlands, ist es schwer vorstellbar, dass sich diese Regierung von ihren lange gehegten Neurosen über den Brexit abwendet", bemerkte Experte Usherwood. Dazu gehört auch das gestörte Verhältnis mit der EU.
"Global Britain" statt EU
Eine Annäherung sei nicht in Sicht, schreibt auch der Politikexperte Anand Menon im Fachjournal "Foreign Affairs". Im Brexit-Abkommen wird die Zusammenarbeit mit dem alten Partner nicht erwähnt, die britische Regierung scheine kein Interesse an einer Kooperation zu haben, erklärte Menon.
Und Aussenministerin Liz Truss – erst seit Mitte Dezember im Amt – fällt vor allem damit auf, dass sie das Wort "EU" zu vermeiden sucht. "Global Britain" schielt nach neuen Partnern, doch anders als bei seinem überwältigenden Wahlsieg 2019 sei der EU-Austritt kein Trumpf mehr für Johnson, sagt Menon. "Stattdessen könnten ihn die Folgen, sowohl im Inland als auch international, bald verfolgen."
Grossbritannien nach dem Brexit – eine Bestandsaufnahme
Wo es überall hakt, zeigt eine Bestandsaufnahme:
- Handel: Von den Verträgen, die der Premier nun so hervorhebt, ist bisher nur ein Deal mit Australien völlig neu ausgehandelt, ein weiterer mit Neuseeland steht bevor. Die übrigen spiegeln letztlich nur die EU-Kontrakte. Doch der Unmut über die neuen Verträge ist gross: Britische Landwirte fürchten, von billigem Fleisch aus Australien und Neuseeland vom Markt gedrängt zu werden. Das wichtigste Vorhaben - ein Freihandelsabkommen mit den USA - ist in weiter Ferne.
- Bürokratie: Einige Branchen profitieren in der Tat, wie ein Diplomat eines EU-Landes in London anerkennt. Autonomes Fahren oder Künstliche Intelligenz seien zwei Bereiche, in denen ohne strikte EU-Regeln nun mehr Möglichkeiten bestünden. Aber: "Das sind nur Nischen." Tatsächlich hat die Bürokratie zugenommen, bereits seit einem Jahr ist der Handel wegen notwendiger Dokumentation schwieriger geworden. Seit Jahresbeginn kontrolliert Grossbritannien nun auch einige Importe aus der EU strenger. Der Handel kleinerer Unternehmen mit der EU nehme dauerhaften Schaden, befürchtet der Tiefkühlkostverband BFFF.
- Verbraucher: Die Handelsprobleme haben konkrete Auswirkungen. Der Grossteil frischer Lebensmittel stammt aus der EU, Regale blieben leer. Seit dem Brexit ist es wegen teurer Arbeitsvisa schwieriger für Fachkräfte, ins Land zu kommen. Das betrifft viele Branchen, in denen bisher vor allem EU-Bürger arbeiteten - von Transport über Fleischverarbeitung bis zur Gastronomie.
- Migration: Klasse statt Masse strebt Innenministerin Priti Patel an. Sie will die ungehinderte Freizügigkeit stoppen und damit eine zentrale Forderung der Brexiteers umsetzen. Stattdessen sollen die klügsten Köpfe kommen. Doch gab es auf ein neues Sondervisum für wissenschaftliche Preisträger bisher keine Bewerbung. Zu Patels Unmut kamen weiterhin viele Migranten illegal über den Ärmelkanal – 2021 wurde sogar die Rekordzahl von mehr als 28.000 Flüchtlingen erreicht, wie eine am Dienstag veröffentlichte Auswertung von Behördendaten durch die britische Nachrichtenagentur PA ergab.
- Konjunktur: Noch überschattet die Corona-Pandemie viele Brexit-Sorgen. Eine klare Einschätzung, inwiefern der EU-Austritt verantwortlich ist für leere Kassen und enorme Steuererhöhungen, steht noch aus. Die Aufsichtsbehörde Office for Budget Responsibility (OBR) kommt aber zu dem Schluss, der EU-Austritt werde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 4 Prozent verringern, doppelt so viel wie die mutmassliche Belastung durch die Pandemie mit einem Minus von 2 Prozent.
- Nordirland: Noch immer gibt es keine Einigung über den Status der Provinz, die de facto weiterhin den Regeln der EU-Zollunion folgt. Das soll eine harte Grenze zum EU-Mitglied Irland und neue Konflikte in der früheren Bürgerkriegsregion vermeiden. Doch tatsächlich ist eine innerbritische Zollgrenze entstanden. Das ist London ein Dorn im Auge, weshalb Johnson die selbst vereinbarte Abmachung neu verhandeln will. Nicht ins Bild passt für Johnson dabei, dass die aktuelle Regelung der nordirischen Wirtschaft einen Boom beschert hat. Weil dort ansässige Unternehmen problemlos mit Grossbritannien und der EU handeln können, haben sie einen Vorteil gegenüber ihren britischen Konkurrenten.
Don't mention the Brexit
Um das leidige Thema des EU-Austritts endlich hinter sich zu lassen, sollen britische Regierungsmitarbeiter künftig auf den Begriff "Brexit" verzichten. Das geht aus einem Ratgeber der britischen Regierung zu Sprache hervor.
Als Alternativen schlägt die Regierung etwa vor, lieber "31. Dezember 2020" zu nutzen anstelle des B-Worts oder des Fakts des EU-Austritts. Die eingangs erwähnte "Independent"-Umfrage zeigt aber, dass sich ein Grossteil der Bevölkerung keine Rückkehr wünscht: 49 Prozent der Befragten würde sich bei einem neuen Referendum gegen einen Wiederbeitritt zur EU entscheiden. Premier Johnson dürfte das freuen.
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