An diesem Donnerstag stimmen die Briten über den Verbleib in der EU ab. Glaubt man den Thesen der Brexit-Befürworter wäre Grossbritannien nach dem Austritt eigenständiger und wirtschaftlich erfolgreicher und könnte gleichzeitig die meisten Vorteile der EU weiternutzen. Die Fakten sehen anders aus.

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1. Brexit-Lüge von der schädlichen Zuwanderung

Die These:

Grossbritannien werde in der EU von Zuwanderern überrannt, die das britische Sozialsystem belasten, lautet eines der wichtigsten Argumente der Brexit-Befürworter. Der Zorn richtet sich dabei vor allem gegen die innereuropäische Freizügigkeit bei der Arbeitsplatzwahl.

Denn Grossbritannien gehört zwar nicht dem Schengen-Raum an und kontrolliert an seiner Grenze jeden, der ins Land kommt. EU-Bürger dürfen die Briten jedoch nicht abweisen und ihnen auch nicht verbieten, sich dauerhaft im Land niederzulassen.

Der starke Zustrom nach Grossbritannien bedeute massiven Druck auf Gehälter, Bildungssystem, Gesundheitswesen und Infrastruktur. "Wir müssen die Kontrolle über unsere Grenze zurückgewinnen", hiess es in einem Kommentar zu Gunsten des Brexits in der Zeitung "The Sun".

Die Fakten:

Tatsächlich kann niemand genau sagen, wie viele Ausländer in Grossbritannien leben, weil das Land im Gegensatz zu Deutschland kein Meldewesen hat. Experten gehen davon aus, dass inzwischen circa 3,3 Millionen EU-Bürger dauerhaft nach Grossbritannien übergesiedelt sind.

Die Zuwanderer sollen überwiegend aus Osteuropa kommen - und aus den südeuropäischen Krisenstaaten Spanien, Italien und Griechenland. Ein Problem für den Arbeitsmarkt in Grossbritannien stellen sie jedoch nicht dar.

Im Gegenteil: Während in den Heimatländern der Neu-Briten die Arbeitslosigkeit teilweise bei über 25 Prozent liegt, herrscht in Grossbritannien die niedrigste Beschäftigungslosigkeit seit Jahrzehnten. Die Zuwanderer aus der EU werden nicht nur in den Arbeitsmarkt integriert, sondern sie sind zunehmend auch für das Schaffen neuer Arbeitsplätze verantwortlich.

Nach Angaben des britischen Innenministeriums wurde 2015 bereits jeder siebte neue Betrieb von einem Migranten gegründet, die damit für 14 Prozent aller neuen Stellen verantwortlich seien. Im Falle einer Abschottung Grossbritanniens nach einem Brexit würde genau dieses Wachstum wohl wegfallen.

2. Brexit-Märchen von der teuren EU

Die These:

Die EU koste Grossbritannien sehr viel Geld, das der Staat im Falle eines Austritts für andere Dinge ausgeben könnte, lautet eine der immer wieder geäusserten Thesen der Brexit-Befürworter.

350 Millionen Pfund pro Woche, also umgerechnet mehr als 450 Millionen Euro würden die Briten nach Brüssel überweisen - und bis 2020 sollen die Mitgliedsbeiträge noch steigen, wird in der Kampagne "Vote Leave" behauptet. Nur mit einem Austritt könnten die Briten dieses teure Abo kündigen.

Die Fakten:

Die Brexit-Befürworter verzichten darauf, die Vorteile der EU gegen die Zahlungen nach Brüssel aufzurechnen. Denn lassen sie unberücksichtigt, dass die Hälfte des Geldes über Agrar-Zahlungen und von der EU finanzierte Projekte direkt in Grossbritannien reinvestiert wird. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt stehen die Briten lediglich an Nummer zehn der Nettozahler-Länder in der EU.

Vertreter der Kampagne "Britain stronger in Europe" gehen davon aus, dass für jedes Pfund, das Grossbritannien nach Brüssel zahlt, zehn Pfund ins Land zurückkommen. Die grösste Gegenleistung der Zahlungen ist für die EU-Befürworter der Binnenmarkt, an dem in der Exportnation Grossbritannien Millionen Arbeitsplätze hängen.

3. Die Überschätzung der Verhandlungsmacht

Die These:

Die EU handele zwar Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada aus, aber sie verbiete ihren Mitgliedern eigene Verträge zu schliessen, zum Beispiel mit Indien oder China. Nach einem Brexit könnte Grossbritannien zum Nutzen seiner Wirtschaft mit allen Regionen der Welt eigene Vereinbarungen treffen - und stünde damit viel besser da als heute.

Die Fakten:

Eine Gemeinschaft aus 28 Staaten hat in internationalen Verhandlungen ein ungleich grösseres Gewicht als das vergleichsweise kleine Grossbritannien, das entgegen dem Gefühl vieler Brexit-Befürworter keine Weltmacht mehr ist.

Wie sehr die Verhandlungsposition im Falle eines Austritts überschätzt wird, zeigen die jüngsten Äusserungen Barack Obamas. Sollte Grossbritannien wirklich austreten, werde es auf absehbare Zeit kein bilaterales Abkommen mit den USA geben, sagte der US-Präsident. Die Briten müssten sich dann ganz hinten anstellen. Die USA haben offenbar keinerlei Interesse, den Briten eine Sonderstellung einzuräumen.

Für die britische Wirtschaft wäre ein fehlendes Handelsabkommen fatal, zumal auch der Freihandel mit der EU abrupt enden könnte. Vertreter der EU-Kommission haben deutlich gemacht, dass Grossbritanniens EU-Mitgliedschaft sofort suspendiert werden könnte, wenn die Briten sich nicht an die Regeln und Fristen eines vertragskonformen Austritts halten würden. Grossbritanniens Exporte gehen zu 44 Prozent in EU-Staaten - und würden dann mit hohen Zöllen belegt. Eine Rezession auf der Insel wäre die fast sichere Folge.

Wie wichtig für die britische Wirtschaft eine EU-Migliedschaft ist, zeigt auch das Engagement britischer Unternehmen gegen einen Brexit. Am vergangenen Dienstag warnten die Chefs von rund 200 (!) britischen Firmen wie Jaguar, Land Rover und Shell mit einem offenen Brief in der "Times" vor einem EU-Austritt. Vier von fünf Unternehmenschefs votierten in einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung für einen Verbleib ihres Landes in der EU. Im Falle eines Austritts drohten Jobverluste und Unternehmensverlagerungen, sagen die Brexit-Gegner.

4. Die Kritik an der Regulierungswut Brüssels

Die These:

Die Brüsseler Regelwut braucht kein Mensch. Künftig soll nach Meinung der Brexit-Befürworter wieder alles ausschliesslich in London entschieden werden, von der Baurichtlinie bis zum Arbeitsmarkt. Die britischen Regeln seien besser als die EU-Verordnungen.

Die Fakten:

Richtig ist, dass die Bürokratie in Brüssel viele EU-Bürger nervt, nicht nur in Grossbritannien. Aber die Regelungen dienen der Aufrechterhaltung des gemeinsamen Binnenmarktes. Und: Sie werden ausnahmslos von Vertretern der nationalen Regierungen und den gewählten EU-Parlamentariern verabschiedet.

Im Falle eines Austritts würde Grossbritannien jedes Mitspracherecht bei der Ausarbeitung der Verordnungen verlieren, müsste aber trotzdem die allermeisten anwenden, um Teil des Binnenmarktes zu bleiben. Grossbritannien würde also fast nichts gewinnen, aber sehr viel Einfluss verlieren.

5. Die Banken werden bleiben

Die These:

Der Londoner Finanzmarkt ist einer der wichtigsten der Welt und trägt entscheidend zum Wohlstand ganz Grossbritanniens bei. Alleine in London hängen 1,5 Millionen Jobs von Finanzgeschäften ab. Das werde auch nach einem Brexit so bleiben, glauben die Befürworter eines EU-Austritts, weil für die Banken alleine die niedrigen Steuern wichtig seien.

Die Fakten:

Für den Londoner Finanzmarkt wäre der Austritt mit aller Wahrscheinlichkeit eine Katastrophe. Nach einem Bericht des Manager-Magazins denken bereits viele internationale Grossbanken wie Goldman Sachs, Credit Suisse, ING oder Société Générale über eine Verlagerung ihrer Geschäfte in die Euro-Zone nach, wenn der Brexit Realität werden sollte.

Richtig ist: Es ergibt für Grossbanken wenig Sinn, sich an einem international isolierten Standort zu engagieren, der ausserhalb des Binnenmarktes liegt, in dem die Geschäfte gemacht werden. Ein grosser Gewinner eines Brexits könnte so zum Beispiel der Bankenstandort Frankfurt sein.

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