Die EU will Grossbritannien für den Brexit 60 Milliarden Euro in Rechnung stellen. Die Briten geben sich unbeeindruckt und drohen, im Zweifel einfach ohne Einigung zu gehen. Alles nur Bluff? Wer hat welche Trümpfe im Ärmel? Und wer mehr zu verlieren?

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"Das ist ein historischer Moment, von dem es kein Zurück geben wird." Die Erklärung von Theresa May vor den versammelten Parlamentariern war eindeutig. Die Premierministerin will den Austritt aus der Europäischen Union (EU) mit aller Macht zum Vorteil Grossbritanniens durchsetzen.

Am Mittwoch traf der von May unterzeichnete Brief in Brüssel ein, in dem sich die Regierung aus London auf Artikel 50 des EU-Vertrages beruft, der den Austritt aus der Gemeinschaft regelt.

Damit haben auf zwei Jahre festgelegte Verhandlungen über die Bedingungen der Trennung und über ein Handelsabkommen für die Zeit nach dem Brexit begonnen. In den Verhandlungen geht es vor allem um: viel Geld.

60 Milliarden sind eine Maximalforderung

"50, 60 Milliarden Euro sind ein Rundungswert", erklärte Kommissionschef Jean-Claude Juncker im Interview der BBC. Die Forderung klingt immens. Ist sie auch realistisch?

"Es ist eine Maximalforderung. Das Verhandlungsergebnis wird darunterliegen", sagt Volkswirtschaftler Prof. Dr. Dr. Clemens Fuest auf Anfrage unserer Redaktion.

Fuest forscht als Direktor des Center for Economic Studies an der Ludwig-Maximilians-Universität München zu den Konsequenzen des Brexits.

Wie es zu dieser hohen Prognose kommt, erklärt er so: "Erstens gibt es Pensionsverpflichtungen der EU-Beamten. Zweitens gibt es Differenzen zwischen Verpflichtungsermächtigungen und Zahlungsermächtigungen im EU-Haushalt. Man hat sich auf Ausgabenspielräume geeinigt, bislang aber nur in geringerem Umfang Mittel bereitgestellt."

Drittens habe die EU in der Vergangenheit Hilfskredite und Garantien vergeben, etwa an Portugal oder die Ukraine, erklärt Fuest. "Es ist unklar, ob die Garantien beansprucht werden und die Kredite zurückgezahlt werden."

Brexit-Hardliner: Zur Not eben ohne Deal

Genau an diesen Punkten werden die Briten laut Fuest in den Verhandlungen ansetzen. "Sie werden hart darüber verhandeln, was wirklich als Verpflichtung anzusehen ist."

Realistisch ist die 60-Milliarden-Forderung demnach nicht, ein realistischer Betrag aber auch nicht vorhersehbar. Die EU schliesse nicht mal aus, dass London gar nicht zahle, berichtet die "Frankfurter Allgemeine", weswegen die Kommission ihre Generaldirektionen angewiesen habe, die Folgen eines ungeregelten Brexits durchzuspielen.

Aussenminister und Brexit-Hardliner Boris Johnson sagte gerade erst, dass es "völlig okay" sei, ohne einen Deal zu gehen. Doch so einfach dürfte es nicht werden.

"Von britischer Seite kommen teils gute, teils weniger gute Argumente." Wenig überzeugend findet er etwa, dass die Briten nur für EU-Beamte mit britischem Pass Pensionen zahlen wollen.

Überzeugender sei ein anderes Argument. "Ob die Differenz zwischen Verpflichtungsermächtigung und Zahlungsermächtigung wirklich eine Verbindlichkeit ist, die jemals bedient wird, ist unter den Mitgliedstaaten und den europäischen Institutionen umstritten." Damit könnte London argumentieren.

Riesige Nachteile durch ungeregelten Brexit

Doch die drohenden Nachteile eines ungeregelten Brexits sind gewaltig. "Für die Briten ist der Dienstleistungshandel mit den EU-Staaten besonders wichtig. Dabei geht es nicht nur um Angebote von Banken, sondern zum Beispiel auch um Ingenieursleistungen und Rechtsberatung", erklärt Fuest. "Wenn die EU in diesem Bereich den Marktzugang verweigern würde, wäre das schmerzlich."

Umgekehrt könnten die Briten drohen, den Zugang zum britischen Markt für europäische Autohersteller zu erschweren, schildert der Volkswirtschaftler Szenarien. "Und das wäre besonders für Deutschland schmerzlich."

Für Grossbritannien wären solche Handelshemmnisse dagegen schlicht eine Katastrophe, kommentiert die "Süddeutsche Zeitung (SZ)" mögliche Freihandelsschranken. Johnson und May würden bluffen, heisst es.

EU wichtigster Exportmarkt für Grossbritannien

Schliesslich sind die EU-Staaten für britische Unternehmer der mit Abstand wichtigste Exportmarkt. In diese Länder gehen laut "SZ" 44 Prozent ihrer Ausfuhren.

Gerade für die boomende britische Autoindustrie wären Zölle in der Höhen, wie sie nach den Regeln der WHO zwischen Staaten ohne Freihandelsabkommen erhoben werden, ein Desaster. Die "SZ" rechnet vor: Dreiviertel der Produktion würden exportiert, umgekehrt mehr als die Hälfte der Zulieferteile importiert.

Volkswirtschaftler Fuest ist sicher: Grossbritannien hat bei diesem Verhandlungspoker deutlich mehr zu verlieren, als die Europäische Union. Allen Ansagen aus London zum Trotz.

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