Die Uhr tickt: Ende des Jahres endet die Brexit-Übergangsphase. Noch ist kein Abkommen in Sicht, welches die zukünftige Partnerschaft regelt – ohne Deal droht jedoch ein harter Brexit. Politikwissenschaftler halten den für fast unausweichlich.

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Es könnte angesichts der Coronakrise in Vergessenheit geraten sein, aber: Das Vereinigte Königreich hat am 1. Februar 2020 die Europäischen Union verlassen. Nach zermürbenden Diskussionen trat vor einem halben Jahr das Austrittsabkommen in Kraft, damit die politischen und wirtschaftlichen Verbindungen zwischen der EU und Grossbritannien nicht von einem auf den anderen Tag abreissen.

Die Brexit-Folgen waren deshalb bislang kaum spürbar – noch ist das Vereinigte Königreich Teil des EU-Binnenmarktes und der EU-Zollunion. Doch im Schatten der Pandemie tickt die Uhr, denn die Übergangsphase dauert nur bis zum 31. Dezember, wie auch auf der Seite der Bundesregierung nachzulesen ist. Seit Februar verhandeln London und Brüssel über die zukünftigen Beziehungen.

Brexit: Wie ist der aktuelle Stand?

Dass innerhalb der Verhandlungsfristen noch eine Einigung zu einem Handelsabkommen gelingt, hielt EU-Chefunterhändler Michel Barnier nach der Verhandlungsrunde Ende Juli zumindest für unwahrscheinlich, sprach von "grossen Differenzen" und einer mangelnden Bereitschaft der britischen Regierung, aus der Sackgasse herauszukommen. Der britische Unterhändler David Frost sieht das ähnlich – naturgemäss jedoch mit der Schuld auf der anderen Seite des Verhandlungstisches.

"Die aktuellen Verhandlungen sind festgefahren", sagt auch Politikwissenschaftler Roland Sturm von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Gespräch mit unserer Redaktion. Unklar sei jedoch, ob es aus inhaltlichen oder taktischen Gründen nicht vorangehe. "Womöglich wollen beide Seiten jetzt noch keine Kompromisse eingehen, denn die Hauptverhandlungen stehen im Oktober an", so Sturm. Beide Seiten setzten auf das Einknicken des Anderen.

"Es bleibt zu hoffen, dass es neben der öffentlichen Erklärung Gesprächsfäden im Hintergrund gibt, die man nicht abreissen lassen möchte", sagt Politikwissenschaftlerin Sabine Riedel von der "Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)".

Was sind die grössten Differenzen?

Von beiden Seiten seien rote Linien skizziert worden, die aktuell unvereinbar erscheinen, erklärt die Expertin, die darüber bereits einen Artikel in der Zeitschrift "Culture-Politics" veröffentlichte. "Eigentlich hat die politische Erklärung den Rahmen gesteckt, in dem über die künftige Wirtschafts- und Sicherheitspartnerschaft verhandelt werden soll", sagt Riedel. Dabei war im Brexit-Vertrag von "hohen Standards für freien und fairen Handel und Arbeitnehmerrechte, den Verbraucher- und den Umweltschutz" die Rede.

"Barnier will nun aber die EU-Normen zum Bezugspunkt machen und Grossbritannien zu den europäischen Standards zwingen, um am Binnenmarkt teilzunehmen", so die Expertin. Das betrifft etwa Sozial- und Beschäftigungsstandards aber auch Fragen zu Umweltnormen und Steuerfragen. "Doch die gibt es teils noch nicht einmal in der EU selbst", merkt Riedel an.

Die Angst in Brüssel: London bekommt die Vorzüge des Binnenmarktes, verzerrt aber mit Unterbietungsmassnahmen den Wettbewerb. "Die EU kann das im Eigeninteresse nicht zulassen. Gleichzeitig ist aber das Recht, von solchen Standards abzuweichen, eine Grundidee von Souveränität, die die Briten ja gerade durch den Brexit angestrebt haben", gibt auch Sturm zu Bedenken. Die Briten seien zwar bereit zu gemeinsamen Standards, wollten aber nicht dem Europäischen Gerichtshof (EUGH) unterstehen.

Quittung für zweistufiges Modell

"Das zweistufige Modell – erst über die Ausstiegsregularien zu verhandeln und dann ein neues Partnerschaftsmodell auszuarbeiten – rächt sich nun", analysiert Riedel. Es sei ein Fehler gewesen, die Streitfragen in die Übergangsphase auszulagern. Dabei bleibe auch die Nordirland-Frage ein grosses Problem.

"Der Frieden, der mit dem Karfreitagsabkommen sichergestellt wurde, droht brüchig zu werden", fürchtet Riedel. Nach wie vor bestehe Regelungsbedarf hinsichtlich der zu vermeidenden Zollkontrollen zwischen Nordirland und Irland – also zwischen der künftigen Zollgrenze zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU.

Besonders strittiges Thema: Fischereipolitik

"Brüssel möchte ausserdem in einem einzigen Handelsabkommen alle Politikbereiche abdecken, London wünscht sich verschiedene Verträge", zeigt Riedel einen weiteren Streitpunkt auf. Den Briten schwebe ein Freihandelsabkommen plus weitere Abkommen über einzelne Politikfelder wie Fischerei, Strafverfolgung, Verkehr, Energie, Klimawandel, Migration, Gesundheit und Kernenergie vor.

"Besonders die Fischerei ist ein strittiges Thema", sagt Riedel. Während sie in Grossbritannien als Symbol für ausländische Konkurrenz gilt und die Briten in der 200-Meilen-Zone längs ihrer Küste künftig die ausschliesslichen Fangrechte haben wollen, besteht die EU weiterhin auf Zugang zu den reichen britischen Fischgründen.

Wie wahrscheinlich ist ein Hard-Brexit?

Jede Menge Zündstoff also. Ist angesichts dessen ein Hard-Brexit überhaupt vermeidbar? "Es ist zwar Spekulation, aber vermutlich nicht", sagt Sturm. Zumindest die Regierung in Grossbritannien bereitet sich schon auf ein No-Deal-Szenario vor, Boris Johnson hat seine Bereitschaft dazu mehrfach bekundet. Auch eine Verlängerung der Übergangsphase ist nicht mehr möglich, London liess die Frist dafür Anfang Juli verstreichen.

"Die EU wähnt sich durch das Austrittsabkommen in falscher Sicherheit", fürchtet Sturm. Es schütze zwar aktuell die Rechte der EU-Bürger, die im Vereinigten Königreich leben und die Rechte der Briten, die in der EU leben, sodass sie dort weiterhin leben, arbeiten, studieren und soziale Sicherheit geniessen können. "Grossbritannien hätte aber noch mehr Erpressungspotential, wenn es droht, diese Vereinbarungen umzuschmeissen, sofern es nicht zu Einigungen in Sachen Wirtschaft kommt", sagt Sturm.

Handelsverträge nicht in Sicht

Klug wäre das aus britischer Sicht in den Augen des Experten jedoch trotzdem nicht: "In der Zeit, die nun abläuft, wollte die britische Regierung eigentlich nicht Corona bekämpfen, sondern eine Reihe an Handelsabkommen abschliessen – um Alternativen zum EU-Markt zu bieten", erinnert der Experte. In Sicht sei jedoch nichts. "Vermutlich wird es bis Ende des Jahres nur einen Entwurf geben. Ein durch das EU-Parlament und die nationalen Parlamente ratifiziertes Abkommen erscheint mir in der kurzen Zeit unmöglich", so der Grossbritannien-Kenner.

Wie dramatisch ein No-Deal wäre, hänge von der jeweiligen Branche ab. "Ökonomisch würde wohl Grossbritannien stärker leiden, in der Covid-Krise kann sich das Land einen Hard-Brexit nicht leisten", meint Sturm. Aber auch Deutschland muss Einbussen fürchten: In Sachen Exportpartner steht das Vereinigte Königreich mit rund 80 Milliarden Euro auf Platz 3 direkt hinter Frankreich und den Niederlanden.

Was muss passieren?

Um einen harten wirtschaftlichen Bruch mit Zöllen und Handelshemmnissen noch zu vermeiden, sieht Riedel auch die EU in der Pflicht. "Behauptungen, das Vereinigte Königreich würde derzeit die Verhandlungen boykottieren oder auf Konfrontation gehen, entbehren jeglicher Grundlage", meint sie.

Die EU müsse endlich zur Kenntnis nehmen, dass es ein "Europa" ausserhalb der EU gibt und akzeptieren, dass nicht jeder dieser europäischen Staaten eine EU-Mitgliedschaft anstrebe. Die Unnachgiebigkeit, mit der Barnier die EU-Standards einfordere und Vertragsangebote zurückweise, erinnere sie eher an vergangene koloniale Machtansprüche als an eine Politik des Interessensausgleichs.

Über die Experten:
Prof. Dr. Sabine Riedel ist ausserplanmässige Professorin für Politikwissenschaft an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg und Wissenschaftlerin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Zu ihren Forschungsgebieten zählt die Europäische Union, sowie regionale und zwischenstaatliche Konflikte.
Prof. Dr. Roland Sturm ist Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche und Vergleichende Politikwissenschaft, Europaforschung und Politische Ökonomie am Institut für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er ist seit mehr als 40 Jahren in der Grossbritannien-Forschung tätig.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Prof. Dr. Roland Sturm
  • Gespräch mit Prof. Dr. Sabine Riedel
  • Bundesregierung: "Der Brexit ist da: Wo stehen wir? Wie geht es weiter?"
  • "Culture-Politics": Sabine Riedel: "Brexit-Verhandlungen 2.0 vorzeitig am Ende?"
  • Austrittsabkommen (Politische Erklärung zur Festlegung des Rahmens für die künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich)
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