Um seine Beziehungen zur EU nach dem Brexit-Entscheid zu regeln, dürfte Grossbritannien eher an einer Art "Schweizer Modell" interessiert sein als an der norwegischen Lösung. Der Schweizer Weg dürfte mehr Flexibilität mit sich bringen, sei aber mit Hindernissen gepflastert, warnt ein EU-Experte.
Nach dem historischen Referendum vom letzten Donnerstag, mit dem der Austritt Grossbritanniens aus der EU beschlossen wurde, gibt es viele Unsicherheiten. Und alle fragen sich, was als nächstes passieren wird.
Wie wird Grossbritannien das politische und wirtschaftliche Chaos meistern können, zu dem die Abstimmung geführt hat? Wie kann das Land seine Scheidung von der EU aushandeln, und welche langfristigen Beziehungen will es mit der Union aufrechterhalten?
Am 28. Juni erklärte der britische Premierminister David Cameron, der seinen Rücktritt angekündigt hat, gegenüber Medienschaffenden in Brüssel, dass Grossbritannien "möglichst enge Beziehungen" zu seinen früheren EU-Partnern anstreben sollte.
Cenni Najy, Forscher bei der Schweizer Denkfabrik Foraus (Forum Aussenpolitik), glaubt, am wahrscheinlichsten sein dürfte ein Modell, das jenem der Schweiz gleiche – sie ist nicht Mitglied der EU, hat aber enge Beziehungen zur Europäischen Union.
"Einige britische Beamte haben Interesse am bilateralen Weg gezeigt, weil sie glauben, dieser sei flexibler. Und man könne damit die eigenen Interessen besser verteidigen", sagt Najy gegenüber swissinfo.ch. "Ihre Lösung würde dem Schweizer Modell sehr ähnlich sein, aber gewisse Unterschiede aufweisen. So würde es zum Beispiel kein Schengen [Abkommen zur Personenfreizügigkeit] geben, an dem die Schweiz beteiligt ist."
"Plan B nach dem Brexit"
Najy warnte jedoch, Grossbritannien stehe vor einer äusserst schwierigen Aufgabe, wenn das Land das Schweizer Modell verfolgen wolle. Die Foraus-Studie "Plan B nach dem Brexit" verwies jüngst darauf, dass die Verhandlungen über die bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU entgegen der landläufigen Meinung ein "langer und oft schwerfälliger Prozess" waren. Zwischen dem Beginn der Verhandlungen und der Ratifizierung waren fast zehn Jahre vergangen.
Etliche Punkte der Verhandlungsagenda – einschliesslich der Personenfreizügigkeit – waren entgegen dem Wunsch der Schweiz zum Thema geworden worden.
Die Befürworter des britischen Austritts aus der EU, wie der frühere Londoner Bürgermeister Boris Johnson, ein möglicher Nachfolger von Premierminister David Cameron, suggerierten, Grossbritannien könne den Zutritt zum EU-Binnenmarkt beibehalten und die Immigration einschränken. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte hingegen, Grossbritannien werde sich für seine Beziehungen zur EU nicht einfach Rosinen herauspicken können.
"Die Briten werden erklären, dass sie keine Personenfreizügigkeit wollen, aber sie werden in diesem Bereich eine Kehrtwende machen müssen, und es wird zu einen Kuhhandel kommen müssen. Das geschah auch mit der Schweiz in den 1990er-Jahren. Am Anfang hatten wir über 18 verschiedene Bereiche verhandelt. Doch dann ging die Europäische Kommission auf sechs nicht ein, fügte aber die Personenfreizügigkeit hinzu", erklärt Najy.
Modell Norwegen
Mehrere Befürworter des Brexit, wie der britische Gesundheitsminister Jermy Hurt, scheinen mehr Interesse am Modell der Beziehungen zur EU nach norwegischem Muster zu haben. Ihrer Ansicht nach würde dies den vollen Zugang zum EU-Binnenmarkt einschliessen, mit einem "vernünftigen Kompromiss, was die Regeln der Personenfreizügigkeit" angeht.
Als Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) und der Europäischen Freihandels-Assoziation (EFTA) hat Norwegen über ein Handelsabkommen Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Norwegen akzeptiert aber auch die Personenfreizügigkeit und zahlt einen Beitrag an das EU-Budget, der – pro Person betrachtet – gleich hoch ist wie jener Grossbritanniens. Norwegen muss die Regeln und Bestimmungen des EU-Binnenmarkts einhalten, hat aber bei deren Formulierung kein Mitsprachrecht.
"Es gibt ein Problem, weil der EWR für die EU sehr gut funktioniert, und für die Norweger auch. Beim EFTA-Treffen in Bern [Anfang Woche] erklärten sie mir, dass sie Grossbritannien nicht im EWR haben möchten, weil es der Elefant im Raum sein würde", sagt Najy.
Im Verlauf der letzten 20 Jahre hat die Schweiz insgesamt mehr als 100 bilaterale Vereinbarungen mit der EU abgeschlossen, sie decken heute von Handel bis Wissenschaft praktisch alles ab, nicht aber den Bereich Finanzdienstleistungen.
Die bilateralen Abkommen kosten weniger als eine EU-Mitgliedschaft. Die Schweiz muss jedoch für ihre Teilnahme an gewissen Programmen einen finanziellen Beitrag leisten. Gemäss der Studie von Foraus zahlt sie für Programme wie Schengen und das Forschungsprogramm Horizon 2020 pro Jahr mehr als 500 Millionen Franken (460 Millionen Euro).
Der kleine Alpenstaat mitten in Europa übernimmt in Bereichen, in denen er direkten Zugang zum Binnenmarkt hat, EU-Regeln. Die Schweiz hat aber keinen vollen Binnenmarktzugang – und auch kein Mitspracherecht, was die Regulierung angeht.
Schattenwurf
Im Rahmen der bilateralen Abkommen akzeptierte die Schweiz die Personenfreizügigkeit für EU-Bürgerinnen und -Bürger. Nun wirft aber die Initiative "gegen Masseinwanderung", die im Februar 2014 von einer Mehrheit der Stimmenden angenommen wurde, einen Schatten auf die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU.
Die Einführung der Personenfreizügigkeit in der Schweiz sei allmählich erfolgt, sagt Najy. "Die Einwanderung konnte zehn Jahre lang entweder durch Quoten oder mit Hilfe von Schutzklauseln begrenzt werden. Könnte die EU einen ähnlich progressiven Mechanismus für Grossbritannien akzeptieren? Vielleicht."
Falls Grossbritannien ein Modell nach Schweizer Vorbild verfolgen werde, müsse heute mit einem viel härteren Verhandlungsklima gerechnet werden, erklärt der Foraus-Forscher weiter. Grossbritannien wolle eine Scheidung, während es damals Hoffnungen gegeben habe, dass die Schweiz eines Tages der EU beitreten könnte.
"Es wird kompliziert, aber nicht unmöglich sein. Die Verhandlungen werden lang und zäh sein. Heute gibt es 27 Mitgliedstaaten, die ein Mitspracherecht haben. Bei der Schweiz waren es damals nur 12 gewesen", fügt Najy hinzu.
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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