- Mit dem Durchbruch beim Streit über Nordirland sicherte sich Boris Johnson einen Sieg bei der Parlamentswahl 2019 und eine Mehrheit für seinen Brexit-Deal.
- Damals lobte er das Abkommen als "grossartig".
- Nun scheint das alles vergessen zu sein.
Etwas mehr als ein halbes Jahr nach dem vollständigen Inkrafttreten will die britische Regierung Teile des Brexit-Abkommens neu verhandeln. Das sagte der britische Brexit-Beauftragte David Frost am Mittwoch in London.
Es brauche "erhebliche Änderungen" am sogenannten Nordirland-Protokoll, sagte das Kabinettsmitglied im Oberhaus. Er fügte hinzu: "Um es einfach auszudrücken, wir können so nicht weitermachen."
Aus Brüssel kam eine direkte Absage. Man werde zwar mit London zusammenarbeiten, um "kreative Lösungen im Rahmen des Protokolls zu suchen", sagte EU-Kommissionsvizepräsident
Nordirland-Protokoll des Brexit-Abkommens sorgt für Spannungen
Hintergrund des Streits ist die Vereinbarung, dass Nordirland weiterhin den Regeln des EU-Binnenmarkts folgt. Damit sollen Warenkontrollen zwischen der britischen Provinz und dem EU-Mitglied Republik Irland verhindert werden.
Ansonsten wird mit einem Wiederaufflammen des Konflikts in der ehemaligen Bürgerkriegsregion gerechnet. Die mehrheitlich katholischen Befürworter einer Vereinigung mit Irland bestehen auf einer offenen Grenze zum Nachbarn.
Das Nordirland-Protokoll erschwert allerdings den Handel zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs. Dort muss nun kontrolliert werden, damit keine Waren aus Drittländern durch die Hintertür in den EU-Binnenmarkt gelangen. Das sorgt für Spannungen, vor allem bei den überwiegend protestantischen Anhängern der Union mit Grossbritannien.
Zeitweise gab es bereits leere Obst- oder Gemüseregale in einigen nordirischen Supermärkten, viele befürchten für die Zukunft weitere, noch grössere Engpässe bei Lebensmitteln und anderen Produkten. Ausserdem könnten britische Farmer im Nachteil sein, wenn in Nordirland aufgrund der Hürden irgendwann lieber Würstchen aus dem EU-Staat Irland eingekauft werden.
London fordert neues Gleichgewicht
Brüssel wirft der britischen Regierung vor, das Protokoll nicht richtig umzusetzen. London bezichtigt hingegen die EU-Kommission, die Regeln zu kleinlich auszulegen.
Die bisherigen Regelungen seien nicht geeignet, den Frieden in der ehemaligen Bürgerkriegsregion zu sichern, erklärte Frost. "Während wir versucht haben, das Protokoll umzusetzen, ist klar geworden, dass seine Lasten zur Quelle von erheblicher und andauernder Beeinträchtigung für Leben und Lebensunterhalt geworden sind", sagte er.
Daher müsse nun ein neues Gleichgewicht geschaffen werden, das den Handel mit Waren zwischen Grossbritannien und Nordirland erleichtere. Auch sollten EU-Institutionen wie der Europäische Gerichtshof keine Rolle mehr bei der Überwachung des Abkommens spielen.
Briten schlagen "Periode des Stillstands" vor
Die Spannungen in Nordirland hatten zuletzt wieder deutlich zugenommen, im April war es zu heftigen Ausschreitungen in Teilen der Provinz gekommen. Der Klimabeauftragte und ehemalige Aussenminister der USA, John Kerry, hatte sich am Mittwoch besorgt gezeigt über die wachsenden Spannungen. Das sei "eine beständige Sorge", sagte Kerry dem Radiosender BBC 4 am Mittwoch. US-Präsident Joe Biden sei "tief befasst" mit dem Thema.
Frost schlug der EU eine "Periode des Stillstands" vor, in der bislang geltende Übergangsfristen verlängert und rechtliche Streitigkeiten pausiert werden sollten. Die letzte Konsequenz mit dem als Notbremse gedachten Artikel 16 des Protokolls, mit dem Teile der Vereinbarung ausser Kraft gesetzt werden können, wolle man aber noch nicht ziehen, obwohl die Voraussetzungen dafür gegeben seien, sagte Frost. Man hoffe weiter auf eine Einigung mit Brüssel.
Die oppositionelle Labour-Partei kritisierte den Vorstoss der Regierung heftig.
Opposition: Konstrukt der Regierung bricht Stück für Stück auseinander
Anna Cavazzini, Grünen-Abgeordnete im Europaparlament, warf der Regierung in London vor, das Nordirland-Protokoll de facto aufzukündigen. Die Regierung habe den Menschen beim Brexit "das Blaue vom Himmel versprochen" - doch nun breche dieses Konstrukt Stück für Stück auseinander. Die EU müsse in dieser Situation standhaft aber nicht überheblich reagieren, forderte sie.
Tatsächlich hatte Johnson schon bald nach dem Abschluss des Brexit-Abkommens immer wieder behauptet, es werde keinerlei Kontrollen zwischen Grossbritannien und Nordirland geben.
Johnson hatte das Nordirland-Protokoll ausgehandelt, nachdem seine Vorgängerin Theresa May mit dem als "Backstop" bekannt gewordenen Plan im britischen Parlament gescheitert war. Demnach hätte sich ganz Grossbritannien weiterhin an den Regeln des EU-Binnenmarkts orientiert, doch Johnson und andere Brexit-Hardliner lehnten das ab. Selbst die protestantisch-nordirische DUP, die damals Zünglein an der Waage spielte und sich heute am heftigsten über das Protokoll beschwert, blockierte May damals mit dem "Backstop"-Plan. (hub/dpa)
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