52% der britischen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben also "Leave" ("Verlassen") gesagt. Am 23. Juni beantworteten sie diese eine Frage: "Soll das Vereinigte Königreich ein Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?" Das Referendum weist mit 72% die höchste je verzeichnete Stimmbeteiligung eines Urnenganges in Grossbritannien auf.

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Mit ihrem historischen Entscheid haben die gut 33 Millionen Teilnehmenden der Abstimmungen aber nicht nur eine Antwort gegeben, sondern auch viele neue Fragen gestellt: zu Grossbritannien, zur Demokratie und zu Europa.

Grossbritannien

Die Brexit-Abstimmung hält der Gesellschaft der einstigen Weltmacht einen deutlichen Spiegel vor. Das Resultat macht nämlich zwei grosse Bruchlinien deutlich: eine soziale und eine regionale.

Die erste Bruchlinie verläuft zwischen dem offenen, kosmopolitischen und sozialliberalen Teil der Gesellschaft einerseits und einem sozialkonservativen, nach innen gerichteten und einwanderungskritischen Teil.

Ein zweiter Bruch verläuft entlang der nationalen Grenzen, nämlich zwischen England und Schottland sowie in Bezug auf Nordirland. Beide Konflikte haben grosse Konsequenzen: die soziale Bruchlinie macht vor allem die Krise der traditionellen Parteien deutlich, gegenwärtig hauptsächlich der sozialdemokratischen Labour Party.

Die regionalen Bruchlinien dürften sich nun noch akzentuieren und führen möglicherweise zu einer Abspaltung von Schottland – und Nordirland. Nicht unbedingt ein Szenario, für das der abtretende konservative Premierminister David Cameron in die Geschichtsbücher eingehen will.

Demokratie

In keinem anderen Land Europas wurde bislang der traditionelle Parlamentarismus so hoch gehalten wie Grossbritannien, dem Mutterland der institutionalisierten Volksvertreter.

Seit Jahrzehnten wird die Bevölkerung von fast 65 Millionen Menschen von Ministerpräsidenten regiert, die ihre umfassenden Machtbefugnisse lediglich von einer relativen Mehrheit der Stimmenden erhalten haben, gemäss dem Prinzip "the winner takes it all".

Darunter hat in den Augen breiter Bevölkerungskreise die Legitimität vieler Beschlüsse in London ebenso gelitten, wie das Verständnis für Entscheidungen, welche die gleiche Regierung innerhalb der Institutionen der Europäischen Union mitgetragen hat.

Der #Brexit-Beschluss ist somit auch als demokratischer Notruf zu verstehen und als Forderung, die als zu schwach eingeschätzten Möglichkeiten der Beteiligung und Mitbestimmung durch die Bürgerinnen und Bürger nachhaltig zu verstärken: durch mehr direkte Demokratie auf allen politischen Ebenen.

Das von Premierminister Cameron für Brexit gewählte Modell eines Plebiszites (Volksabstimmung von oben) ist dafür allerdings keine Antwort.

Europa

Das politische Integrationsprojekt Europa hat in den letzten Jahrzehnten nicht nur viele Fortschritte und Vertiefungen erlebt, sondern wird zunehmend auch durch Schlaglöcher und Rückschläge durchgeschüttelt. Bereits früher ist es bei Volksabstimmungen in europäischen Staaten zu europäischen Themen immer wieder zu schmerzhaften Ablehnungen gekommen.

Und immer wieder sind die führenden politischen und gesellschaftlichen Kräfte aus diesen Situationen einfach abgeschlichen. So geschehen im Nachzug etwa zum Nein der Dänen und Iren zum EU-Vertrag. Oder auch nach dem Scheitern der EU-Verfassung infolge der Ablehnung in Frankreich und den Niederlanden.

Nach der Brexit-Abstimmung ist dies nicht mehr möglich, denn bereits fordern nationalkonservative Kräfte in weiteren EU-Mitgliedsstaaten ähnliche Volksentscheide. Aber vorerst muss geklärt werden, wie und mit welchen Konsequenzen nun Grossbritannien die EU verlässt. Und das allein dürfte Jahre dauern.  © swissinfo.ch

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