Ratlosigkeit in London: Auch im zweiten Anlauf ist es dem Parlament nicht gelungen, sich auf eine Austrittsalternative zu einigen. Wie soll der harte Brexit jetzt noch verhindert werden? Premierministerin May zitiert am Dienstag ihr Kabinett zu einer fünfstündigen Sitzung. EU-Unterhändler Michel Barnier sieht noch einen Ausweg.
Im Brexit-Streit in Grossbritannien zeichnet sich weiter keine Lösung ab. Nachdem das britische Unterhaus sich am Montagabend erneut auf keine Alternative zum Austrittsabkommen einigen konnte, berät Premierministerin
Schon am 12. April droht ein ungeregelter Austritt Grossbritanniens aus der EU. Dies würde die Wirtschaft und viele andere Lebensbereiche treffen. Möglicherweise spielt das Brexit-Debakel aber auch May in die Hände - und die Abgeordneten entscheiden sich letztlich doch für ihren Deal als kleineres Übel.
Brexit-Minister Stephen Barclay brachte noch am Abend eine vierte Abstimmung über Mays Abkommen ins Spiel. Es sei möglich, noch in dieser Woche einen Deal zu erreichen. Gesundheitsminister Matt Hancock twitterte: "Können wir jetzt bitte alle für den Deal stimmen und den Brexit durchführen?" Doch bereits am Mittwoch haben die Abgeordneten wohl Gelegenheit, erneut über Alternativvorschläge abzustimmen.
Um aus der Sackgasse herauszukommen, hat May für Dienstag eine mehr als fünfstündige Sitzung ihres Kabinetts einberufen - in unterschiedlicher Besetzung. Normalerweise dauert eine Sitzung des Kabinetts etwa 90 Minuten. Medienberichten zufolge machen einige Minister Stimmung für einen No-Deal-Brexit, andere fordern, eine engere Anbindung an die EU zur Regierungslinie zu machen. Der Vorschlag, in der europäischen Zollunion zu bleiben, kam am Montag bei der Abstimmung einer Mehrheit noch am nächsten, allerdings gegen den Widerstand eines grossen Teils der konservativen Regierungspartei.
Einigt sich das Parlament weder auf Mays Deal noch auf eine Alternative, droht ein Austritt ohne Abkommen. Möglich wäre aber auch eine erneute Verschiebung des Brexits. Doch dies wäre mit einer Teilnahme der Briten an der Europawahl Ende Mai verbunden - das will London unbedingt vermeiden. Zudem dürfte Brüssel eine triftige Begründung für einen neuerlichen Aufschub verlangen. Immer mehr wird daher auch über eine Neuwahl spekuliert.
Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland grösster Streitpunkt
In Paris empfängt am Dienstag der französische Präsident Emmanuel Macron den irischen Regierungschef Leo Varadkar. Die Frage, wie künftig Grenzkontrollen zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland verhindert werden können, ist einer der grössten Streitpunkte beim Brexit. Sollten wieder Grenzkontrollen zwischen den beiden Teilen Irlands eingeführt werden, wird mit neuer Gewalt in der ehemaligen Bürgerkriegsregion gerechnet. Mit dem geplanten Austritt Grossbritanniens aus der Zollunion scheint das aber kaum zu verhindern.
EU-Politiker reagierten entsetzt auf die erneute Ablehnung aller Optionen in London. Ein Brexit ohne Abkommen werde nun fast unausweichlich, twitterte der Brexit-Beauftragte des Europaparlaments,
SPD-Europapolitiker: "Lächerliche Selbstblockade"
Der SPD-Europapolitiker Jens Geier sprach von einer "inzwischen lächerlichen Selbstblockade im britischen Parlament" und forderte: "Einer Verlängerung der EU-Mitgliedschaft über den 12. April hinaus kann die Europäische Union nur mit der gleichzeitigen Ansage eines zweiten Referendums stattgeben."
Trotz der Brexit-Blockade hält EU-Unterhändler Michel Barnier einen harten Bruch nächste Woche noch für vermeidbar. "Ein No-Deal-Szenario ist wahrscheinlicher geworden, aber wir können es noch verhindern", sagte Barnier in Brüssel. Dazu müsse das britische Parlament aber den bereits ausgehandelten Austrittsvertrag verabschieden. "Wenn Grossbritannien die EU immer noch auf geordnete Art und Weise verlassen will, ist und bleibt diese Vereinbarung die einzige", sagte Barnier.
Idee einer Zollunion mit der EU kommt Mehrheit noch am nächsten
Zur Abstimmung im Unterhaus standen am Montag vier Alternativen zum Brexit-Deal: zwei Optionen für eine engere Anbindung an die Europäische Union, der Vorschlag für ein zweites Referendum sowie der Plan, den Brexit notfalls abzusagen, um einen Austritt ohne Abkommen zu verhindern.
Die Idee einer Zollunion mit der EU kam einer Mehrheit bei der Abstimmung am nächsten. Dafür stimmten 273 Abgeordnete, 276 votierten dagegen. Um sich mit Sicherheit mit einer Alternative durchsetzen zu können, wären im Unterhaus mindestens 318 Stimmen notwendig.
Viele britische Abgeordnete völlig frustriert
Viele britische Abgeordnete waren nach Bekanntgabe des Ergebnisses völlig frustriert. Der konservative Abgeordnete Nick Boles, der den Vorschlag für das Modell "Norwegen plus" unterbreitet hatte, verkündete nach der Abstimmungsniederlage seinen Parteiaustritt. In einer emotionalen Ansprache an das Unterhaus warf Boles den Konservativen vor, einen Kompromiss zu verweigern: "Ich habe alles gegeben, um einen Kompromiss zu finden, um unser Land aus der EU zu bringen und trotzdem unsere wirtschaftliche Stärke und unseren politischen Zusammenhalt zu bewahren. ... Ich habe versagt", sagte Boles mit brüchiger Stimme.
Oppositionschef Jeremy Corbyn bezeichnete den Ausgang der Abstimmungen als "enttäuschend". Der Labour-Chef betonte aber, Mays Austrittsabkommen sei noch deutlicher gescheitert. Das Unterhaus hatte den Austrittsvertrag drei Mal abgelehnt. Corbyn forderte eine dritte Runde von Probeabstimmungen zu alternativen Brexit-Plänen. Das könnte am Mittwoch geschehen.
Häme von britischen Medien
Britische Medien reagierten mit scharfer Kritik auf den Ausgang der Abstimmungen vom Montagabend. Die Zeitung "Daily Mail" schrieb von einer "Farce". Der "Daily Mirror" sprach von einer "weiteren Nacht der Gespaltenheit und Verzweiflung". Der "Guardian" schrieb, May sei jetzt "mit einer tickenden Uhr, einer meuternden Partei, einer entsetzten britischen Öffentlichkeit und einer wahrhaft perplexen EU" konfrontiert. (szu/dpa/afp)
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