Theresa May steckt fest: Wann und wie es wirklich zum Brexit kommt, ist unsicher. Bisher haben die Pläne der Briten, aus der EU auszutreten, vor allem Verlierer produziert.

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Einen "Unabhängigkeitstag" feierte die britische Boulevardzeitung "The Sun" am 23. Juni 2016. 51,9 Prozent der Teilnehmer des Brexit-Referendums hatten sich für den EU-Austritt ausgesprochen.

Inzwischen ist der Brexit im Chaos versunken: Premierministerin Theresa May ringt um ein Austrittsabkommen, das sowohl die EU als auch eine Mehrheit im britischen Unterhaus zufriedenstellt - bisher ohne Erfolg. Gerade erst hat Unterhaussprecher John Bercow eine dritte Abstimmung über Mays Abkommen in der aktuellen Form ausgeschlossen - und ihr damit erneut eine Schlappe zugefügt.

Dabei hatten die Befürworter einst mit vollmundigen Versprechen für den Austritt geworben. Was ist daraus geworden?

350 Millionen Pfund für das Gesundheitssystem

Kaum ein Versprechen hatte in der Kampagne zum Referendum für so viel Aufsehen gesorgt: Das Vereinigte Königreich überweise Woche für Woche 350 Millionen Pfund nach Brüssel, behaupteten die EU-Gegner. Das Geld könne man besser in das marode britische Gesundheitssystem stecken, sagte unter anderem der frühere Aussenminister Boris Johnson.

Kaum ein Versprechen hat sich jedoch so schnell als Luftnummer erwiesen. Brexit-Gegner starteten im vergangenen Jahr sogar eine Kampagne, um Johnson wegen "Fehlverhaltens in einem öffentlichen Amt" strafrechtlich zu verfolgen.

Die Briten gehören zwar in der Tat zu den Nettozahlern der EU, doch die Zahl 350 Millionen Pfund ist irreführend. Denn das Königreich erhält im Gegenzug auch eine Menge Geld aus Brüssel - zum Beispiel Fördermittel für strukturschwache Regionen oder Universitäten. Premierministerin Theresa May hat angekündigt, dass sie diese Summen nach dem Brexit aus dem nationalen Haushalt bezahlen will.

Hier sei brutto mit netto vertauscht worden, sagt Paul Welfens, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Bergischen Universität Wuppertal und Autor des Buches "Brexit aus Versehen". Er geht davon aus, dass sich der Nettobetrag auf höchstens 170 Millionen Pfund beläuft.

Neue Handelsabkommen mit der ganzen Welt

"Die EU verbindet uns nicht mit der Welt, sie schottet uns ab", hiess es 2016 in einer Anzeige der Brexit-Befürworter. Ihr Argument: Alleine könnte das Königreich einfacher Handelsabkommen mit der ganzen Welt schliessen.

Formal sei das richtig, sagt Volkswirt Paul Welfens im Gespräch mit unserer Redaktion. "Die Regierung kann ohne die EU eigenständiger verhandeln." Allerdings sei das Königreich alleine ökonomisch viel schwächer als im Bund mit europäischen Partnern.

Aus bestehenden Freihandelsverträgen wie dem mit Japan fallen die Briten zudem heraus. "Bisher haben sie erst acht Länder als Freihandelspartner gewinnen können. Über die EU bestehen dagegen Verträge mit derzeit 71 Ländern."

Nur geringe wirtschaftliche Konsequenzen

"Wir bieten den Menschen Hoffnung", sagte Boris Johnson während der Leave-Kampagne. Die Befürworter zerstreuten die Befürchtungen, das Vereinigte Königreich werde wirtschaftlich unter dem Austritt leiden. Alleine, so das Versprechen, sei man stärker.

Nun können sie sich in der Tat auf Zahlen stützen, die auf den ersten Blick nicht allzu schlecht aussehen: Zu Jahresbeginn wuchs die britische Wirtschaft so stark wie seit zwei Jahren nicht mehr. In der Industrie zum Beispiel stieg die Produktion im Januar um 0,6 Prozent im Vergleich zum Vormonat.

Volkswirt Welfens sieht diese Zahlen nicht als Beleg für wirtschaftliche Stärke, sondern als Folge der grossen Unsicherheit im Angesicht des Brexit: Zu 80 Prozent gehe das Wachstum darauf zurück, dass Unternehmen und Bürger nun Vorräte anlegen.

"Firmen haben Angst vor einem ungeregelten Brexit, bauen zusätzliche Lagerkapazitäten auf und schaffen einen Produktionsvorrat. Das gilt sogar für die Haushalte, wenn sich Bürger jetzt schon mit Nahrungsmitteln eindecken." Fast ein Drittel der Lebensmittel, die die Briten verzehren, importieren sie aus dem Ausland.

Bessere Bedingungen für Arbeitnehmer

Die britischen Sozialdemokraten hatten sich 2016 nur halbherzig für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Auch, weil die EU in Teilen des linken europäischen Spektrums noch immer als Interessenvertretung konservativer Regierungen oder grosser Unternehmen gilt.

Dabei könnte sich der Brexit gerade für Arbeitnehmer als bittere Erfahrung erweisen. Die meisten Gewerkschaften haben sich letztlich gegen den Ausstieg ausgesprochen. "Weil sie realisierten, dass eine sozialere Politik im Interesse der Arbeitnehmer nicht von der eigenen Regierung zu erwarten war, sondern eher von der EU", sagt der britische Sozialwissenschaftler Lionel Fulton im Interview mit dem "Magazin Mitbestimmung". "Die EU ist ein Schirm für die Gesetze, die uns schützen."

Die Folgen des Brexit wird die gesamte Bevölkerung zu tragen haben. Volkswirt Paul Welfens geht davon aus, dass die Einkommen im Vereinigten Königreich bei einem weichen Brexit um sieben Prozent sinken könnten - bei einem harten sogar um mindestens 15 Prozent. "Das passiert nicht gleich in den nächsten zwei Jahren, aber diese langfristigen Folgen sind in der öffentlichen Debatte häufig schwierig zu vermitteln."

Begrenzung der Zuwanderung

Mehr Kontrolle über die Grenzen statt Masseneinwanderung: Das war ein Versprechen, mit dem vor allem der Hardliner Nigel Farage 2016 für den Brexit warb. Er präsentierte ein Plakat, auf dem Menschenmassen zu sehen waren - Einwanderer, die man mit dem EU-Austritt aus Grossbritannien fernhalten könne.

Im Gegensatz zu den wirtschaftlichen Verheissungen kann die Regierung dieses Versprechen leichter umsetzen: Theresa May stellte im Herbst die Grundzüge der britischen Einwanderungspolitik nach dem Brexit vor: Einwanderer müssen demnach ab 2021 über ein Arbeitsvisum verfügen, um ins Land kommen zu dürfen.

Unter dem Strich sollen nicht mehr als 100.000 Menschen einwandern. Für Streit hat aber auch dieser Plan gesorgt: Schon jetzt gibt es im Gesundheitswesen Engpässe bei Fachkräften, die Wirtschaft kritisierte den Plan als zu unflexibel. Und die ehemalige Innenministerin Amber Rudd erklärte, sie rechne mit Verteilungskämpfen der Branchen um die Arbeitskräfte, die ins Land kommen dürfen.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Prof. Dr. Paul J. J. Welfens, Europäisches Institut für Internationale Wirtschaftsbeziehungen der Bergischen Universität Wuppertal
  • Magazin Mitbestimmung: England nach dem Brexit
  • NZZ online: Grossbritannien will Einwanderung künftig straff kontrollieren
  • tagesschau.de: Vote-Leave-Kampagne – Das 350-Millionen-Pfund-Versprechen
  • The Guardian: Nigel Farage's anti-migrant poster reported to police
  • The Independent: Brexit: Campaign to prosecute Boris Johnson over 350m Pound NHS claim raises 24,000 Pound in two days
  • Die Zeit: Ein Land hängt in der Luft (14. März 2019)
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