Der britische Premier David Cameron will eine EU-Reform, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande wollen die Verträge nicht anrühren. Droht der Brexit?

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Einen "Warnschuss" gegen Premier David Cameron nannten es französische und britische Medien: Anfang dieser Woche war bekannt geworden, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande offenbar ein gemeinsames Positionspapier erarbeitet haben. Der Inhalt: Künftig soll es in der Euro-Zone eine engere Zusammenarbeit in der Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik geben – ohne dass die bestehenden Verträge geändert werden sollen. So berichtete es die französische Zeitung "Le Monde".

Das klingt harmlos, birgt aber einiges an Brisanz. Der Grund: Cameron hatte den Briten im Wahlkampf ein Referendum darüber versprochen, ob das Land in der EU bleiben soll. Vorher wollte er die Beziehungen seines Landes mit Europa neu verhandeln. Von einer "Reform der EU" war die Rede. Der Plan: Wenn Grossbritannien gestärkt aus den Verhandlungen hervorgeht, werden die Briten für den Verbleib in der EU stimmen.

Dämpfer für David Cameron

Das bekannt gewordene Papier von Merkel und Hollande macht es Cameron nun schwerer. "Es ist ein Signal an ihn, dass er nicht damit rechnen kann, dass es in den nächsten zwei Jahren Vertragsänderungen gibt, bei denen er eigene Akzente setzen kann", sagt Josef Janning, Experte für Europapolitik beim European Council on Foreign Relations. "Diese Vorstellung, die er bislang zu Hause genährt hat, hat einen Dämpfer bekommen."

Was genau Merkel und Hollande planen, ist noch unklar. Das Papier soll erst Ende Juni beim EU-Gipfel vorgestellt werden. "Le Monde" berichtete, es gehe um eine Verstärkung der politischen Integration. Neben einer Annäherung der Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik solle Europa künftig beim Thema Investition und Geldpolitik enger zusammenrücken.

Auch was Cameron genau fordert, ist noch unklar. Er will ebenfalls Ende Juni seine Forderungen vorlegen. Skizziert hat er bereits den Wunsch nach einer Beschränkung der Sozialleistungen für EU-Bürger im europäischen Ausland, einem Abbau bürokratischer Hürden und einem Vetorecht nationaler Parlamente – kurz: eher weniger Europa, als mehr.

"Brexit ist ein realistisches Szenario"

Die Frage ist, ob es Cameron trotz der Ankündigungen von Merkel und Hollande gelingen wird, seine Forderungen in den Verhandlungen mit den anderen Mitgliedsstaaten durchzusetzen. Er hat heute seine Europa-Tour gestartet: In den kommenden Wochen will er sich mit allen 27 Staats- und Regierungschefs der EU zusammensetzen. Sollte er scheitern, könnte am Ende auch das Referendum scheitern – und damit ein Austritt Grossbritannien aus der EU bevorstehen.

"Der Brexit ist ein realistisches Szenario geworden", sagt Nicolai von Ondarza, EU-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. "Deutschland und Frankreich wollen Grossbritannien in der EU halten, aber nicht um jeden Preis."

Grossbritannien wäre der grosse wirtschaftliche Verlierer

Eigentlich will auch Cameron in der EU bleiben. Mit dem Referendum gab er den EU-skeptischen Kräften in der eigenen Partei nach. Er weiss, wie wichtig Europa wirtschaftlich für das Land ist. Laut von Ondarza zeigen wissenschaftliche Studien, dass Grossbritannien selbst der grösste wirtschaftliche Verlierer einer Abkoppelung von seinem grössten Exportmarkt wäre. Auch für die EU wäre der Brexit ein Problem: Grossbritannien ist einer der grössten Nettozahler und die grösste Militärmacht der Gemeinschaft.

Die nächsten Wochen und Monate werden daher spannend. Mit leeren Händen kann Cameron nicht von seiner EU-Tour wiederkommen. Die Frage ist, wie weit die anderen Mitgliedsstaaten ihm entgegenkommen werden. "Die Verhandlungen werden jetzt darum gehen, wie hoch der Preis ist, den man bereit ist für den Verbleib Grossbritanniens in der EU zu bezahlen", sagt von Ondarza, "und ob das Cameron reicht, um die Bevölkerung und seine Partei zu überzeugen."

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