Das Brexit-Chaos in London lässt in Deutschland die Hoffnung auf einen Exit vom Brexit aufkeimen. In einem emotionalen Brief wenden sich deutsche Spitzenpolitiker direkt an die Briten. Indes geht das Warten auf Mays "Plan B" weiter.

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Mit einem leidenschaftlichen Leserbrief in der Londoner "Times" haben deutsche Spitzenvertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft die Briten zum Verbleib in der EU aufgerufen.

Die Brexit-Entscheidung werde zwar respektiert, heisst es in dem am Freitag veröffentlichten Schreiben, das unter anderem von der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, SPD-Chefin Andrea Nahles und den Vorsitzenden der Grünen, Annalena Baerbock und Robert Habeck, unterzeichnet war. "Aber die Briten sollten wissen, dass wir keine Entscheidung für unumkehrbar halten. Unsere Tür wird immer offen stehen: Europa ist Zuhause."

Deutsche haben Grossbritannien viel zu verdanken

Grossbritannien habe Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder als souveräne Nation und als europäische Macht aufgenommen, "Das haben wir, als Deutsche, nicht vergessen und wir sind dankbar", heisst es weiter. Das Vereinigte Königreich und seine Traditionen würden vermisst werden. "Deswegen sollten die Briten wissen: Wir wollen aus tiefstem Herzen, dass sie bleiben." Zu den Unterzeichnern gehören unter anderem BDI-Präsident Dieter Kempf, der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann, der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm, Daimler-Chef Dieter Zetsche, Tote-Hosen-Frontmann Campino und der ehemalige Fussball-Nationaltorhüter Jens Lehmann.

Der britische Ex-Premierminister Tony Blair bezeichnete den deutschen Aufruf zur Abkehr vom Brexit als "sehr hilfreich". In einem Interview der "Welt" (Samstagsausgabe) und anderer europäischen Medien sagte er: "Die öffentliche Meinung in Grossbritannien zum Brexit wandelt sich. Daher ist es sehr wichtig, dass Europa klar sagt, dass Europa die Briten willkommen heisst, sollten sie ihre Meinung ändern." Aber es müsse auch klar gemacht werden, dass sich in den vergangenen 30 Monaten etwas verändert habe. "Vor allem in Hinsicht auf die Frage, wie wir mit dem Thema Einwanderung umgehen", so Blair.

Deutschland wartet auf "Plan B"

Die Bundesregierung will nach dem Scheitern des Brexit-Vertrags im Londoner Parlament zunächst den "Plan B" der britischen Premierministerin Theresa May abwarten. Es sei nun an den Briten, den nächsten Schritt zu machen, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Auf die Frage, ob die Bundesregierung Nachverhandlungen über das Austrittsabkommen zwischen der EU und Grossbritannien ausschliesse, sagte Seibert: "Grossbritannien ist jetzt dran, zu sagen, was der nächste Schritt, eine mögliche neue Richtung, ein neuer Vorschlag sein soll."

Am Freitagnachmittag telefonierte die britische Premierministerin Theresa May mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. May habe um das Telefonat gebeten, sagte ein Kommissionssprecher. Zum Inhalt des Telefonats hiess es lediglich, es habe einen "Austausch von Informationen" gegeben. Die beiden seien sich einig gewesen, in Kontakt zu bleiben. May sprach zudem mit EU-Ratspräsident Donald Tusk über die nächsten Schritte auf britischer Seite, wie Tusk auf Twitter mitteilte. Einzelheiten wurden nicht bekannt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und May hätten bereits am Donnerstag miteinander telefoniert, sagte Seibert. Es sei darum gegangen, wie es nun weitergehe. Einzelheiten nannte auch Seibert nicht.

21. Januar ist Stichtag für May

Am 21. Januar muss May dem Parlament in London einen "Plan B" für das abgelehnte Brexit-Abkommen vorlegen, das sie mit Brüssel ausgehandelt hatte. Am 29. Januar soll darüber im Unterhaus abgestimmt werden. Grossbritannien will am 29. März aus der Europäischen Union austreten.

Der Brief in der "Times" wurde von der Grünen-Abgeordneten Franziska Brantner und dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag Norbert Röttgen (CDU) initiiert. Röttgen sagte der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", er sei sich bewusst, dass der Aufruf in Grossbritannien als Intervention zugunsten eines zweiten Brexit-Referendums verstanden werde. Ausschlaggebend für die Initiative sei aber eine "politische Verpflichtung" gewesen.

In einem separaten Meinungsbeitrag in der "Times" erklärte Röttgen, es gebe nach der deutlichen Ablehnung des Brexit-Vertrags durch das britische Unterhaus nur noch die Wahl zwischen einem ungeregelten Brexit und einer Abkehr vom EU-Austritt. Sollte sich das Land daher für ein zweites Referendum entscheiden, wäre die EU aus seiner Sicht zu einer Verschiebung des Austrittsdatums am 29. März bereit.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist sich hingegen nicht sicher, ob London nach der Ablehnung des Brexit-Vertrags im britischen Unterhaus nun mehr Verhandlungszeit benötigt. "Das kann ich nur ganz schwer beurteilen, weil wir im Augenblick nicht einmal wissen, was im Augenblick der Wunsch der britischen Regierung ist", sagte Steinmeier nach einem Treffen mit dem italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella in Berlin. Es sei unklar, "ob man nach Möglichkeiten eines geordneten Brexit sucht oder ob man die Dinge einfach laufen lässt".

Steinmeier sieht London am Zug

Steinmeier sieht in den Turbulenzen um den Brexit jetzt die Regierung in London am Zug. "Die Entscheidungen liegen jetzt in Grossbritannien", sagte er. "Wer ein starkes Europa will, der kann das Ausscheiden Grossbritanniens nur bedauern." Das Ergebnis des britischen Referendums über den EU-Austritt müsse aber respektiert werden. Die Zeit sei nun sehr knapp geworden. Es sei jetzt Aufgabe Grossbritanniens, einen Weg zu suchen, der im eigenen Land mehrheitsfähig sei. Mattarella betonte, Grossbritannien bleibe auch nach dem Brexit ein befreundetes und verbündetes Land.

Für Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) wäre ein tatsächlicher Austritt Grossbritanniens aus der EU eine der "grossenNiederlagen Europas". Im Gespräch mit dem Magazin "Focus" sagte er zugleich, schon die Diskussion über den Brexit habe aber zur Geschlossenheit der übrigen 27 EU-Mitgliedsstaaten beigetragen. (mgb/dpa)

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