- Die Verhandlungen zwischen der EU und Grossbritannien über einen Brexit-Deal scheinen festgefahren.
- Ende des Jahres läuft die Frist für ein Abkommen ab.
- Ökonom Ralf Langhammer klärt im Interview über den aktuellen Verhandlungsstand, die Knackpunkte und die Folgen eines No Deal-Brexit auf.
Die Verhandlungen zwischen der EU und Grossbritannien über einen Brexit-Deal dauern weiter an. Wie wahrscheinlich ist es angesichts dessen, dass ein Abkommen bis Ende des Jahres überhaupt noch zustande kommt?
Rolf Langhammer, Ökonom und Handelsexperte am Institut für Weltwirtschaft in Kiel (IfW), zeigt sich im Interview bedingt optimistisch – und erklärt, welche Auswirkungen es haben könnte, sollten Brüssel und London nicht bis Ende des Jahres zu einer Einigung kommen.
Es heisst, die Brexit-Verhandlungen gingen in dieser Woche nun endgültig in ihre letzte Runde. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein – wird es noch zu einem Deal kommen?
Rolf Langhammer: Zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht abzusehen, wann oder ob die Verhandlungen überhaupt zu einem Abschluss kommen. Und alle Parteien bewahren Stillschweigen, worüber eigentlich im Detail verhandelt wird. Das Abkommen muss ja auch noch ratifiziert werden, es muss durch alle Parlamente.
Klingt nach einer verfahrenen Situation.
Aber es ist alles möglich, wenn die Parteien das auch wollen. Mein Eindruck auf der britischen Seite ist allerdings, dass man sich schon auf erhebliche Barrieren ab Januar einstellt, unabhängig davon, ob es zu einem Ergebnis kommen wird. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass es bis zum 31. Dezember keinen Abschluss geben wird, doch ausschliessen kann man es nicht.
Sie bleiben also latent hoffnungsvoll?
Ja, im Grunde sagt ja der gesunde Menschenverstand, dass es zu einem Abschluss kommen muss, wenn man so lange verhandelt hat. Doch das Vereinigte Königreich macht gerade nicht deutlich, dass der Brexit dort wirklich prioritär behandelt wird, auch wenn Corona und die Chance eines Impfstoffes natürlich die mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Inwiefern hat sich die Corona-Pandemie denn auf die Verhandlungen ausgewirkt?
Sicherlich dadurch, dass sich die Verhandlungspartner nicht regelmässiger treffen konnten. Aber auch, weil die britische Regierung der Bekämpfung der Pandemie Priorität eingeräumt hat.
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In der Vergangenheit wurden Verhandlungen rund um den Brexit ja bereits mehrmals aufgeschoben, wäre dies auch jetzt auch noch denkbar?
Dass die Verhandlungen auch über dieses Jahr hinaus verlängert werden könnten, ist unwahrscheinlich. Wenn man sich wirklich an den Vertrag hält, ginge das nicht. Die Briten haben eine Verlängerung der Übergangszeit selbst ausgeschlossen.
Wo sehen Sie die wichtigsten Knackpunkte, in denen sich Brüssel und London noch uneinig sind?
Da gibt es drei: Einer betrifft die Wettbewerbsbedingungen, denn die EU möchte einen Überbietungswettbewerb bei Subventionen und Beihilfen auf jeden Fall verhindern. Ausserdem geht es um die Reichweite der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs. Darf er auch nach dem Ausstieg bei Streitfragen, die den Güterhandel betreffen, als letzte Instanz über einem britischen Gericht stehen? Aber ich glaube, der wichtigste Streitpunkt und der sichtbarste ist die Fischerei.
Halten Sie es für möglich, dass das gesamte Abkommen tatsächlich an der Frage der Fischerei scheitern könnte?
Ich hoffe nicht, dafür ist der Sektor viel zu klein, gemessen an seinem Beitrag zur gesamten Wertschöpfung. Allerdings ist er politisch hochemotional belegt. Für die EU und insbesondere für Frankreich geht es um die Fischer auf dem Kontinent, die medial sehr präsent sind. Für die Briten geht es natürlich auch um die Souveränität über ihre Küstengewässer und ihre sogenannte Ausschliessliche Wirtschaftszone im Atlantik. All das macht diese Frage sehr schwierig.
Vielen galt die Wahl des neuen US-Präsidenten
Die EU und vor allem Irland – Biden hat ja Vorfahren aus Irland – sind vielleicht ein bisschen selbstbewusster geworden. Jetzt ist das natürlich alles noch recht früh, aber klar ist: Die Position, die Donald Trump vertreten hat, der ja im Grunde genommen die EU spalten wollte und sich für einen harten Brexit eingesetzt hat, wird Biden nicht teilen. Das weiss auch der britische Premierminister Boris Johnson.
Es könnte sein, dass die EU auch deswegen unnachgiebig ist. Doch die Briten haben ein gewichtiges Pfund, und zwar das der politischen Zusammenarbeit. Das geht weit über den ökonomischen Bereich hinaus, betrifft die NATO und die allgemeine Sicherheitspolitik. Hier ist man auf das Vereinigte Königreich, glaube ich, deutlich mehr angewiesen als im ökonomischen Bereich.
Sie plädieren also dafür, dass die EU in den Verhandlungen mehr auf das Vereinigte Königreich zugehen sollte?
Genau. Natürlich leiden wir alle, unsere letzten Schätzungen zeigen, dass beispielsweise Deutschland bei einem harten Brexit Einbussen von etwa 0,5 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt hätte. Die Briten würden über drei Prozent verlieren. Wir können nur hoffen, dass der Stärkere im eigenen Interesse die Vorteile eines Abkommens sieht, und das ist in diesem Fall ganz klar die EU. Jedes Abkommen wäre besser als keins.
Haben Sie den Eindruck, London und Brüssel teilen diese Meinung?
Leider nein. Für die EU gibt es wohl Punkte, die für sie nicht verhandelbar sind. Und die Briten haben sich ja bislang kein Hintertürchen offengelassen, um die Verhandlungen über den ersten Januar hinaus zu verlängern.
Wenn es in diesem Jahr tatsächlich zu keiner Einigung käme: Was würde das konkret für die europäische Wirtschaft bedeuten?
Ein No Deal ist ein erheblicher Kostenfaktor – der auch noch in einer Zeit kommen würde, in der die europäische Wirtschaft durch Corona sowieso erhebliche Probleme hat. Es würde ganz bestimmte Branchen treffen, die enge Lieferbeziehungen zwischen beiden Parteien unterhalten. Die EU hätte also erhebliche Verluste, und die Briten würden noch mehr darunter leiden. Wenn wir diesen harten Bruch im Ökonomischen zulassen, riskieren wir auch einen harten Bruch im Politischen. Das hielte ich für fahrlässig und gefährlich, ganz abgesehen von den Spannungen auf der irischen Insel, die wieder aufflammen könnten.
Was besorgt Sie daran?
Wir leben ja nicht mehr in einer Welt, in der die multilaterale Ordnung der Nachkriegszeit von den wichtigsten Ländern als Gewinn für alle verstanden und verteidigt wird. Wir leben in einer Welt, in der Geopolitik und Nationalismus eine grosse Rolle spielen. Ohne ein Abkommen würden wir die europäische Position gegenüber China und den USA mit Sicherheit schwächen.
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