Der Brexit wird Medienberichten zufolge für Grossbritannien weitaus dramatischere wirtschaftliche Konsequenzen haben, als bislang angenommen. Grund sei eine eklatante Fehleinschätzung der Regierung in Bezug auf die einfache Übernahme Hunderter EU-Handelsabkommen mit Drittstaaten. Das belege ein Dokumenten-Leak aus dem Handelsministerium.
Die britische Regierung ist einem Bericht des "Spiegel" und der britischen "Sun" zufolge weit hinter dem Plan bei den Verhandlungen zur Übernahme von EU-Freihandelsabkommen nach dem Brexit.
Liam Fox, britischer Handelsminister, war sich Ende Oktober 2017 noch sicher, dass "eine Sekunde nach Mitternacht" am ersten Tag nach dem Brexit die wichtigsten Handelsverträge der EU auch für Grossbritannien in Kraft treten würden.
Zweifler hatte Fox damals als "Feiglinge" bezeichnet, die "absoluten Mist" erzählten. Nun aber musste Fox klein beigeben, wie "Spiegel Online" berichtet.
Demnach habe der Handelsminister Vertretern der britischen Wirtschaft beichten müssen, dass sich ihnen mit dem Austritt aus der EU auch die Türen zu den wichtigsten internationalen Handelspartnern der EU verschliessen.
Vertragsdesaster konnte bislang geheim gehalten werden
Bislang habe London diese Erkenntnis noch geheimhalten können. Wie der "Spiegel" erklärt, läge dem Nachrichtenmagazin ein Schriftwechsel zwischen der britischen Regierung und der EU-Kommission vor, der das eklatante Scheitern von Handelsminister Fox dokumentiert.
Auch die "Sun" veröffentlichte auf ihrer Homepage eine geleakte Liste mit entsprechenden Informationen.
In London sei man demnach davon ausgegangen, dass man die lukrativen EU-Verträge mit Drittstaaten einfach nur kopieren und auf Grossbritannien übertragen könne, wodurch sich auch nach dem Brexit faktisch nichts ändern sollte. Doch das habe sich als fataler Trugschluss erwiesen.
Laut "Spiegel" habe London bis Ende Januar kein einziges der 40 bestehenden EU-Handelsabkommen mit Drittstaaten übertragen können. Dabei war geplant, dass diese Abkommen auch dann greifen, wenn es zu einem sogenannten No-Deal-Brexit mit der EU kommt, einem gefürchteten Austritt ohne Abkommen mit Brüssel.
Mittlerweile wurden zwar mit der Schweiz, Chile, den Färöer-Inseln sowie dem ost- und südafrikanischen Handelsverbund ESA Verträge abgeschlossen. Zudem seien Gespräche mit Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde fortgeschritten, wie die "Sun" berichtet.
All diese Verträge hätten aber bei Weitem nicht das Volumen der grossen EU-Handelsverträge etwa mit Kanada, Japan, Südkorea, Mexiko der der Türkei.
UK hat nicht dieselbe Verhandlungsposition wie EU
Zudem gibt es Hunderte weiterer internationaler Abkommen, die etwa Fischereirechte und den Flugverkehr regeln. Auch hier konnte London bislang nur einen geringen Teil übernehmen.
Die grossen Handelspartner hätten schlichtweg keinen Grund, dem kleineren Grossbritannien dieselben Zugeständnisse zu machen, wie dem weitaus mächtigeren Staaten-Bund der EU aus 27 Ländern, schreibt der "Spiegel".
Im Gegenteil. So habe sich Japan bereits zuversichtlich gezeigt, in einem neuen Abkommen mit Grossbritannien für sich vorteilhaftere Konditionen aushandeln zu können.
Japan - und so dürften es auch die anderen grossen Handelspartner der EU halten - sieht sich am längeren Hebel.
So habe Japans Botschafter in London bereits unmissverständlich klargemacht, was die Konsequenzen wären, würde Grossbritannien für ausländische Investoren durch verringerte Profitabilität an Attraktivität verlieren. "Das ist ganz einfach", zitiert der "Spiegel" Koji Tsuruoka: "Kein privates Unternehmen könnte dann noch seine Geschäfte weiterführen."
Das "Handelsblatt" bezeichnet die Situation Grossbritanniens in einem Kommentar bereits als prekär und attestiert Handelsminister Fox trotz des jüngsten Abkommens mit der Schweiz eine "dürftige Erfolgsbilanz".
Handelsblatt: London hat seine internationale Rolle überschätzt
Das Land drohe "an seinem selbst gewählten Schicksal zu zerbrechen", weil es "seine zukünftige Rolle im internationalen Machtgefüge überschätzt" habe.
Dass sich Grossbritanniens Position mit dem Brexit verschlechtere, sei eine Erkenntnis, "die viele Brexit-Verfechter noch immer nicht verinnerlicht haben".
Das Parlament in London stimmt an diesem Donnerstag (18 Uhr MEZ) über das weitere Vorgehen beim EU-Austritt ab. Es ist bereits die zweite Abstimmungsrunde seit der krachenden Niederlage für Premierministerin Theresa May mit ihrem Brexit-Abkommen Mitte Januar.
Sollte das Parlament die Beschlussvorlage der Regierung am Donnerstag ablehnen, wäre Mays Fähigkeit, am Ende eine Mehrheit für ihr Brexit-Abkommen zu gewinnen, weiter infrage gestellt.
Kritiker wie Labour-Chef Jeremy Corbyn werfen May ohnehin vor, mit den seiner Ansicht nach aussichtslosen Nachverhandlungen Zeit zu schinden. Sie wolle das Parlament Ende März kurz vor dem EU-Austritt vor eine Friss-oder-stirb-Abstimmung über ihr leicht verändertes Brexit-Abkommen stellen, so der Vorwurf. (mwo)
Verwendete Quellen:
- Spiegel Online: Briten scheitern krachend mit ihren Handelsplänen
- The Sun: Liam Fox scrambles to sign trade deals after leaked list reveals just six out of 40 will be done in time for Brexit
- Handelsblatt: Das Handelsabkommen mit der Schweiz offenbart die Brexit-Gefahren
- dpa
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