Paukenschlag zur neuen Brexit-Verhandlungsrunde: Regierungschef Boris Johnson akzeptiert Berichten zufolge Teile des von ihm unterzeichneten Brexit-Deals nicht mehr. Ist damit die harte wirtschaftliche Trennung von der EU nach der Brexit-Übergangsphase besiegelt?

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Der britische Premierminister Boris Johnson will Änderungen am bereits gültigen Brexit-Abkommen mit der Europäischen Union. Sein Nordirland-Minister Brandon Lewis bestätigte am Dienstag im britischen Parlament Gesetzespläne, die einen Teil des Abkommens aushebeln würden. Lewis räumte sogar ein, dass dies internationales Recht verletzen würde - aber nur in "sehr begrenztem Masse". In Brüssel starrt man ungläubig nach London und kann die Ansagen der britischen Regierung kaum fassen.

Sassoli droht mit Konsequenzen

EU-Parlamentspräsident David Sassoli besprach sich am Dienstagnachmittag mit EU-Unterhändler Michel Barnier und trat dann leicht verärgert vor die Kameras: "Jeder Versuch des Vereinigten Königreichs, den Vertrag zu unterminieren, hätte natürlich ernste Konsequenzen", liess Sassoli die Partner in London wissen.

Denn der besagte Vertrag ist ein gültiges internationales Abkommen, das die gesamten Bedingungen des britischen EU-Austritts regelt. Es wurde 2019 ausgehandelt und vor dem Brexit Ende Januar ratifiziert. Die EU pocht auf Vertragstreue. Das sei Voraussetzung dafür, dass das für 2021 anvisierte Handelsabkommen mit Grossbritannien zustande komme, betont die EU-Kommission. Über diesen neuen Pakt wird diese Woche wieder verhandelt. Er soll Zölle und Chaos abwenden, wenn Ende dieses Jahres die Brexit-Übergangsphase ausläuft. Doch nun überschattet die britische Breitseite gegen den Austrittsvertrag diese achte Verhandlungsrunde.

Abkommen soll ausgehebelt werden

Johnson selbst soll diesen 2019 geschlossenen Deal als widersprüchlich bezeichnet haben. Er müsse umgeschrieben werden, zitierte der "Telegraph" am Dienstag aus einer Mitteilung des Premierministers. Es hätten sich aus dem Vertrag mit der EU unbeabsichtigte Folgen ergeben, die korrigiert werden müssten. Offiziell wollte eine Regierungssprecherin dazu nichts sagen.

Aber dann stellte sich Nordirland-Minister Lewis ins Parlament und bestätigte im Prinzip genau dies: Man wolle am Mittwoch das sogenannte Binnenmarktgesetz vorlegen, das Teile des Abkommens aushebeln würde. "Ja, das bricht tatsächlich internationales Recht in einer sehr speziellen und begrenzten Art und Weise", sagte der Minister und löste gar bei britischen Abgeordneten Kopfschütteln aus.

Der Ruf Grossbritanniens steht auf dem Spiel

Das Vorgehen stiess bei der Opposition und in den Reihen der regierenden Konservativen auf Kritik. "Wie kann die Regierung angesichts dessen künftigen internationalen Partnern versichern, dass sie darauf vertrauen können, dass Grossbritannien die rechtlichen Verpflichtungen in unterzeichneten Abkommen einhält?", fragte die ehemalige Premierministerin Theresa May. Wegen der geplanten Änderungen trat der Chefjustiziar der Regierung, Jonathan Jones, zurück.

Inhaltlich geht es um entscheidende Vertragsklauseln zu Nordirland, die von Anfang an umstritten waren. Sie sollen verhindern, dass zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Staat Irland eine feste Grenze entsteht. Im Austrittsabkommen hatte London akzeptiert, Subventionen für Unternehmen bei der EU anzumelden, sofern sie Geschäfte in Nordirland betreffen. Zudem müssen nordirische Unternehmen Exporterklärungen abgeben, wenn sie Güter aufs britische Festland bringen wollen. Laut "Financial Times" würde das von London geplante Binnenmarktgesetz diese vertraglichen Zusagen teilweise zunichtemachen.

EU: London muss Zusagen einhalten

Brexit-Befürworter in London stossen sich seit jeher an Sonderregeln für Nordirland, weil sie eine Abkopplung der Provinz vom übrigen Vereinigten Königreich befürchten. Johnson unterzeichnete den Austrittsvertrag dennoch eigenhändig. Denn die EU bestand darauf, beim Brexit Kontrollen an der inneririschen Grenze zu verhindern, die dem Karfreitags-Friedensabkommen für Nordirland widersprechen würden.

EU-Unterhändler Barnier selbst reagierte am Dienstag zunächst nicht auf die neuesten Einlassungen von Johnson und Lewis. Die EU-Seite will vorerst abwarten, was tatsächlich in dem britischen Entwurf für ein Binnenmarktgesetz steht. Parlamentspräsident Sassoli aber war eindeutig: Die EU erwarte, dass Grossbritannien alle eingegangenen Verpflichtungen einhalte, sagte er.

Empörung in Brüssel

Auch andere Europaabgeordnete machten ihrer Empörung Luft. "Unter der Führung von Premierminister Boris Johnson ist Grossbritannien nahe dran, seine internationale Glaubwürdigkeit zu verlieren", schrieb der Fraktionschef der Liberalen im Europaparlament, Dacian Ciolos, als Reaktion auf Lewis auf Twitter.

Kritiker fürchten, dass die britische Nachforderung zu einer gültigen Vereinbarung der Todesstoss für den anvisierten Handelsvertrag sein könnte. In der Folge könnte es Anfang 2021 - nach dem Ende der Brexit-Übergangsphase - zum harten Bruch mit Zöllen und anderen Handelshemmnissen kommen. Einige Beobachter halten die Äusserungen aus London allerdings nur für ein innenpolitisches Manöver, zumal Johnson wegen der Corona-Krise intern mächtig unter Druck steht. Chancen für einen Handelspakt blieben dennoch, schrieb zum Beispiel Bloomberg.

"Es ist sehr ernst"

Das betonte auch Sassoli: Die EU werde weiter konstruktiv an einem Kompromiss arbeiten, sagte er. Doch ist der Ärger über London gross. "Es ist sehr ernst", sagte der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, der Deutschen Presse-Agentur. Vertragstreue sieht auch Weber als Muss. "Europa wird sich nicht erpressen lassen", sagte der CSU-Politiker. "Wenn die britische Regierung einen No-Deal will, dann wird sie einen solchen bekommen."

Ähnliche verbale Aufrüstung betrieb der britische Chef-Unterhändler David Frost, der den Start der neuen Verhandlungsrunde mit der EU am Dienstag mit Vorhaltungen an Brüssel vorglühte. "Wir reden jetzt seit sechs Monaten und können es uns nicht mehr leisten, über ausgetretenes Terrain zu gehen", erklärte Frost. "Wir müssen Fortschritte in dieser Woche machen, wenn wir noch rechtzeitig eine Einigung finden wollen." Ob die Ansagen aus London solche Fortschritte beflügeln oder behindern, blieb zunächst offen. (mss/dpa)

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