• Obwohl die Mehrheit der Schotten Mitglied in der Europäischen Union bleiben wollte, musste das Land als Teil von Grossbritannien Ende Januar austreten.
  • Das sorgt in Schottland seit jeher für Wut und Unmut – der sich jetzt angesichts der nahenden Konsequenzen verschärft.
  • Droht jetzt sogar ein zweites Referendum?

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Wäre es nur nach Schottland gegangen, wäre heute alles anders: Grossbritannien wäre noch Mitglied in der EU, zähe Verhandlungen über einen Austritts-Vertrag gäbe es eben so wenig wie die Furcht vor einem harten Brexit und Gezanke um Fischereirechte, Sozial- und Umweltstandards. Denn 62 Prozent der Schotten haben im Referendum über den EU-Austritt mit "Remain" gestimmt – wollten Mitglied der EU bleiben.

Die bittere Pille aber: Mitziehen musste Schottland als Teil des Vereinigten Königreichs dennoch und trat am 31. Januar 2020 aus der EU aus. Bis Ende des Jahres bleibt es noch Teil des EU-Binnenmarktes und der Zollunion. Einen Vertrag über die künftigen Beziehungen mit der EU gibt es bis dato noch nicht.

"Die Schotten sind mit dem nun zu erwartenden No-Deal sehr unglücklich, werden es aber nicht verhindern können", sagt Politikwissenschaftlerin Tanja Börzel von der Freien Universität Berlin. Generell befinde sich Schottland in einer misslichen Lage: "Die überwiegende Mehrheit der Schotten wollte eigentlich EU-Mitglied bleiben, verliert nun aber die Vorteile des EU-Binnenmarktes, und Grossbritannien wird das nicht ausgleichen können", ist sich Börzel sicher.

Brexit und Schottland: Geringes Interesse von Johnson

Denn was die britische Regierung alles kompensieren wolle, sei nicht einzuhalten. "Das reicht von Subventionen für strukturschwache Regionen in Nordengland bis hin zu Projektförderung für britische Universitäten durch den europäischen Forschungsrat", führt Börzel aus. Weil die Schotten geringen politischen Einfluss auf die Politik des Vereinigte Königreich hätten, hätten sie folglich auch wenig Möglichkeiten im Umverteilungskampf ein grosses Stück vom Kuchen abzubekommen.

"Das Interesse von Johnson an Schottland ist relativ gering", sagt Expertin Börzel. Er brauche Schottland politisch nicht, denn die "Hochburgen" der Tories lägen in England –in den Brexitverhandlungen liege der Fokus deshalb auch auf England, wo die meisten Briten leben. "Die Mehrheit der Tories ist nicht zu Zugeständnissen an die EU bereit und nimmt dafür lieber einen harten Brexit in Kauf", meint Börzel. Wenn er hier auf die Schotten zugehe, bekäme er Krach mit seiner eigenen Fraktion, ist sich die Expertin sicher. "Und ohne Johnsons Zustimmung bekommen sie kein zweites Referendum", ergänzt Börzel.

Forderung nach zweitem Referendum

Genau das ist es nämlich, was die Schotten aktuell fordern: Schon 2014 haben sie über die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich abgestimmt, sich aber mit einer knappen Mehrheit für den Verbleib entschieden. Weil die Karten durch die Entscheidung für einen Brexit und die Coronakrise neu gemischt wurden, will das 5,5-Millionen-Einwohner-Land erneut abstimmen.

So einfach ist das aber nicht: "Johnson hat die Forderung nach einem zweiten Unabhängigskeitsreferendum im Januar 2020 abgelehnt – ohne die Zustimmung der britischen Regierung können die Schotten aber kein Unabhängigkeitsreferendum abhalten", erklärt Expertin Börzel. Die Argumentation laute: "In einer Demokratie kann nicht so oft abgestimmt werden, bis das Ergebnis stimmt. Die Schotten hätten sich das vorher überlegen müssen, das Brexit-Referendum stand seit 2013 im Raum", führt die Politikwissenschaftlerin aus.

Keine Abspaltung von Britannien: Fehlende Drohkulisse

Weil eine Abspaltung vom Vereinigten Königreich damit in weite Ferne rückt, fehle den Schotten eine Drohkulisse: "Mit der abgelehnten Unabhängigkeit haben die Schotten einen Hebel aus der Hand gegeben. Denn nun steht die territoriale Integrität Grossbritanniens nicht mehr auf dem Spiel", sagt Börzel. Die Drohung, das Vereinigte Königreich zu verlassen, wenn wirklich ein harter Brexit vollzogen werden, sei nicht wirksam, weil sie ohne Zustimmung der britischen Regierung gar nicht realisiert werden könne.

Die Zwangsehe kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schotten anders ticken: "Sie sind politisch nicht so konservativ wie viele Briten eingestellt", sagt Börzel. Schottische Regierungschefin ist Nicola Sturgeon von der linksliberalen Scottish National Party (SNP).

Weniger als zehn Prozent der Sitze im Unterhaus

"Die Labour-Party ist in Schottland so gut wie gar nicht mehr vorhanden, die Scottish National Party – die eine ähnliche Agenda hat – hat ihr im Wesentlichen alle Stimmen weggenommen", so Börzel weiter. Das führe dazu, dass die Schotten im britischen Parlament nur noch durch die SNP vertreten seien.

Ein Blick auf die dortige Machtverteilung: Das britische Unterhaus zählt 650 Abgeordnete. 362 Sitze entfallen auf die regierende Partei – die Conservative Party, auch genannt Tories. Von 277 Oppositionssitzen hält allein die sozialdemokratische Labour-Party 201 Plätze. Die SNP stellt nur 48 Sitze – weniger als 10 Prozent. "Es gibt für die sozialdemokratisch regierten Schotten deshalb insgesamt wenig zu reissen, gerade wenn die konservativen Tories mit einer satten Mehrheit an der Macht sind", so Börzel.

Weniger Abgehängte in Schottland

Dass die Schotten 2016 so anders als die Engländer abgestimmt hätten, liege vor allem an sozioökonomischen Unterschieden. "In England leben mehr sogenannte abgehängte Bevölkerungsgruppen, mehr Menschen sehen sich dort als Verlierer der Globalisierung und fühlen sich im Umbau weg von einer industrialisierten hin zu einer digitalisierten Gesellschaft abgehängt", erklärt Expertin Börzel.

Ausserdem sei die englische Presse schon immer sehr europaskeptisch bis -feindlich eingestellt gewesen. "Die schottischen Medien berichten tendenziell positiver über Europa und die EU", so die Expertin.

Schlechte Chancen für EU-Mitgliedschaft

Haben die Schotten doch noch eine Chance, wieder Teil der EU zu werden? Voraussetzung wäre zunächst eine Abspaltung vom Vereinigten Königreich – die Schwierigkeiten eines zweiten Referendums wurden bereits erwähnt. Doch auch danach gäbe es Unwägbarkeiten:
"Ein unabhängiges Schottland würde mitnichten einfach in die EU aufgenommen werden", glaubt Börzel.

Schottland müsste sich um die EU-Mitgliedschaft bewerben und hätte dann schlechte Chancen. "Länder wie Spanien, die selbst mit Sezessionsbewegungen zu tun haben, werden der Aufnahme eines abgespaltenen Landes nicht zustimmen." Expertin Börzel sieht vielmehr den inneren Zusammenhalt Grossbritanniens gefährdet. Die geringe Aufmerksamkeit für die Thematik des Brexit in der britischen Öffentlichkeit sei erschütternd. "Wenn die Schotten bald die Folgen des Brexit zu spüren bekommen, könnte sich ihr Unmut noch verschärfen", schätzt Börzel.

Über die Expertin: Prof. Dr. Tanja Börzel ist Politikwissenschaftlerin am Otto-Suhr-Institut für Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin. Sie ist Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration.

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