Die EU gewährt Grossbritannien beim Brexit Aufschub - allerdings zu ihren Bedingungen. Für die EU der richtige Schritt, kommentieren europäische Medien. Die Pressestimmen zeigen aber auch: Einem Ausweg aus dem Chaos sind die Briten damit nicht näher.

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Die EU hat sich mit Grossbritannien darauf geeinigt, den Brexit zu verschieben. Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben. So beurteilen europäische Zeitungen die Lage:

"NZZ": "Ein nationaler Albtraum"

Der Gipfel vom Donnerstag habe gezeigt, dass fortan nicht mehr Grossbritannien, sondern die EU vorgibt, wo es langgeht, meint die "Neue Züricher Zeitung": "Über die Zukunft Grossbritanniens wird in Brüssel und nicht in London entschieden. Von Mays persönlicher Demütigung abgesehen entwickelt sich der Brexit deswegen immer mehr zu einem nationalen Albtraum. Man muss in der jüngeren britischen Geschichte lange suchen, um einen Moment zu finden, in dem sich das Land in einer gleichermassen prekären Lage befand und ebenso stark vom Wohlwollen des Auslands abhängig war."

"La Repubblica": "Im politischen Morast"

Die italienische Zeitung "La Repubblica" schätzt die Lage Grossbritanniens ähnlich desaströs ein: "Wie hat es eines der pragmatischsten Völker geschafft, das Vereinigte Königreich - Wiege der liberalen Demokratie und des glorreichen Parlaments von Westminster - in einen Irrgarten wie den Brexit zu versenken? Tausend Tage nach dem Referendum über den Ausstieg aus der EU, das das Land in einen politischen Morast gestossen hat, gibt es sehr viele Gründe. Aber hindurch zieht sich ein roter Faden: eine unglaubliche Serie von falschen Kalkulationen und irrationalen Entscheidungen."

"La Vanguardia": "Guter Wille ja, aber ..."

Die spanische Zeitung "La Vanguardia" schlägt in eine ähnliche Kerbe: "Bei ihrer Ankunft beim Gipfel hatten die beiden Grossen eine ähnliche Botschaft, jedoch mit unterschiedlichen Akzenten. Den bösen Polizisten gab der französische Präsident Emmanuel Macron, der das Vereinigte Königreich an die Wand stellte, [...] während die deutsche Kanzlerin Angela Merkel als gute Polizistin auftrat [...].

Die Botschaften der beiden sind aber nicht widersprüchlich, sondern ergänzen einander, sie sind zwei Seiten derselben Medaille, die [die britische Premierministerin Theresa] May und ihr Parlament jetzt akzeptieren oder ablehnen müssen. [...] Guter Wille ja, aber mit der gleichzeitigen Warnung, dass ohne die Zustimmung des britischen Parlaments die guten Absichten ein Ende finden."

"Zeit": "Mehr Rechtssicherheit für die EU"

"Der neue Aufschub bedeutet mehr Rechtssicherheit für die EU, denn er reduziert das Risiko, dass Grossbritannien gegen seinen Willen doch an der Europawahl teilnehmen muss: Die Britinnen und Briten müssen diese Entscheidung nun bewusst und früh genug treffen", schreibt die deutsche Wochenzeitung "Zeit". Zudem bekomme das britische Parlament "noch einmal die Möglichkeit, sich zu überlegen, was es tatsächlich will".

"Guardian": "May ignoriert Millionen Menschen"

Der britische "Guardian" kritisiert, dass Theresa May ein zweites Referendum über den Brexit kategorisch ausschliesst. "Sie ist nur an einer Hälfte des Landes interessiert. Für die andere hat sie nichts übrig. Sie behandelt Millionen von Menschen, die mit dem Brexit und ihrem Umgang damit nicht einverstanden sind, als würden sie nicht existieren. Sie hört und sieht sie nicht. Für sie sind sie einfach nicht da."

"Hospodarske noviny": "Zweites Referendum wäre einzige saubere Lösung"

Auch die liberale Zeitung "Hospodarske noviny" aus Tschechien plädiert für eine erneute Abstimmung: "Drei Jahre sind vergangen und Grossbritannien ist einer Lösung nicht näher. Wie weiter? Die am wenigsten dumme aller dummen Möglichkeiten wäre es, die Menschen erneut entscheiden zu lassen, welche Variante ihnen am liebsten ist. Es gibt ungefähr acht verschiedene Brexit-Varianten - die neunte Möglichkeit wäre, in der EU zu bleiben. [...]

Selbst ein blödes Computerprogramm fragt lieber ein zweites Mal: Sind Sie sich sicher? Zudem war die ursprüngliche Brexit-Kampagne nicht nur voller Lügen, sondern auch noch negativ. Sie hat nicht ergeben, was die Nation will, sondern nur, was sie nicht will. [...] In der derzeitigen Pattsituation wäre ein zweites Referendum die einzige saubere Lösung."

"Sun": "Zutiefst respektlos"

Anders sieht das die britische Boulevardzeitung "The Sun". Sie hält es für richtig, am Brexit festzuhalten, und kritisiert jene Abgeordneten scharf, die den Austritt mit ihrem Nein zum Deal mit der EU blockieren: "Es ist eine beschämende Untergrabung der Demokratie und zutiefst respektlos gegenüber den Wählern, das Brexit-Versprechen zu brechen, indem man den einzigen verfügbaren Exit-Deal aus parteipolitischen Interessen ablehnt oder gar fordert, den Brexit einfach abzublasen." (mcf/dpa)

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