• Der seidene Faden, an dem Boris Johnson zuletzt noch hing, ist gerissen. Der britische Premier hat einem Rücktritt zugestimmt.
  • Er hinterlässt eine Partei im Chaos und ein Land in einer Krise. Nachfolger bringen sich bereits in Stellung, aber die Aussichten sind nicht gerade rosig.
  • Zwei Politikwissenschaftler wagen einen Ausblick.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen der Autorin bzw. der zu Wort kommenden Experten einfliessen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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Die Uhr tickte schon länger im Hintergrund, trotzdem hat sich der britische Premier Boris Johnson bis zuletzt an die Macht geklammert und einen Rücktritt abgelehnt. Dabei war der Kampf längst verloren, ein Skandal nach dem nächsten hatte den 58-Jährigen immer weiter ins Abseits getrieben.

Nun hat er den Abgang doch noch selbst geschafft und einem Rücktritt zugestimmt. Ein würdiges Ende nimmt seine Karriere trotzdem nicht. Zuvor waren Dutzende Minister, Staatssekretäre und konservative Politiker mit wichtigen Regierungsfunktionen zurückgetreten. Selbst loyale Minister, darunter zum Beispiel Innenministerin Priti Patel, kehrten ihm den Rücken.

Misstrauensvotum wäre unabwendbar gewesen

"Johnson wurde klargemacht, dass er ein Misstrauensvotum in der kommenden Woche nicht mehr hätte abwenden können und dass er es mit einem beschämenden Ergebnis verloren hätte", sagt Politikwissenschaftler Tim Bale auf die Frage, warum Johnson nun doch die Reissleine gezogen hat. Gleichzeitig sei er der Aussicht darauf begegnet, dass die Minister, die er als Ersatz für zurückgetretene Minister ernannt hatte, ebenfalls zurücktreten werden.

Politikwissenschaftler Johann Dvorak hatte eigentlich damit gerechnet, dass Johnson noch im Amt bleibt – auch, wenn die Luft bereits ziemlich dünn war. Nun sagt er: "Offensichtlich ist sein innerparteilicher Anhang so geschrumpft, dass er sich keiner Mehrheit mehr sicher ist." Damit ergebe sich auch die Aussicht, dass durch eine Statutenänderung eine weitere – baldige – Misstrauensabstimmung in der Parlaments-Partei möglich werde.

Das Fass sei übergelaufen

"Viele derzeitige Abgeordnete sind erst mit Boris Johnsons Erfolg ins House of Commons gekommen. Nun haben sie sich allerdings von ihm distanziert, um sich selbst politisch zu retten", sagt Dvorak. Im Juni wurde schon einmal ein Misstrauensvotum gegen Johnson angestrengt. Damals stimmten 42 Prozent der Fraktionsmitglieder gegen den Premierminister.

Nun aber sei das Fass übergelaufen: Es kam ans Licht, dass Johnson entgegen früherer Aussagen doch von Vorwürfen der sexuellen Belästigung wusste, die gegen das führende Tory-Mitglied Chris Pincher erhoben wurden. Johnson hatte ihn trotzdem in die Machtposition des Vizefraktionschefs befördert.

"Johnson habe in seiner Karriere immer gelogen und betrogen und er ist immer damit durchgekommen", sagt Dvorak. Das sei quasi sein Markenzeichen gewesen. "Ironischerweise hat er sich zum ersten Mal in seiner politischen Karriere jemandem gegenüber loyal verhalten und damit hat sein Unglück begonnen", kommentiert der Experte.

Die fragwürdige Moral sei aber nur ein Grund für die derzeitige Situation. "Die Stimmung im Land und in der Partei sind ausgesprochen schlecht", sagt Dvorak. Es gebe strukturelle Probleme.

Überall nur Krisenerscheinungen

Das Brexit-Versprechen sei nicht eingelöst worden, das Land stehe wirtschaftlich vor der Rezession, die Inflation sei auf einem Rekordniveau. "Grossbritannien sollte wieder aufblühen, die Leute sehen aber nichts davon, sondern überall nur Krisenerscheinungen", analysiert der Experte.

Gleichzeitig beobachte man bei den Tories eine Erosion. "Die Konservativen können Neuwahlen auf keinen Fall riskieren", ist sich Dvorak sicher. Das Personal sei schwach, es gebe wenig mögliche Kandidaten, die Johnson wirklich nachfolgen könnten. "Die Partei zerfällt in unzählige Gruppen", beobachtet er.

Nur wenig mögliche Nachfolger sind in Sicht

Wer aber wird Johnson nachfolgen? "Ich sehe aktuell niemanden, der vom persönlichen Standing her sagen könnte: Ich bin euer Mann oder eure Frau", meint er. Als aussichtsreicher Bewerber gilt allerdings der jetzige Finanzminister und frühere Erziehungsminister Nadhim Zahawi. Einen Namen hat sich der Sohn kurdischer Flüchtlinge und Gründer des Umfrageinstitutes "Yougov" ausserdem durch die Zuständigkeit für das COVID-Impfprogramm gemacht.

"Um der nächste Parteichef zu werden, braucht ein Abgeordneter aber Unterstützung in der gesamten Partei und die ist in mehrere Lager zerfallen", erklärt Dvorak. Genügend Unterstützung müsse beispielsweise im Lager der Zentristen, Brexit-Hardliner und der Abgeordneten aus den früheren Industriegebieten in Nordengland mobilisieren.

Während beispielsweise Aussenministerin Liz Trust Unterstützung bei den Brexiteers geniesst, aber bei den Zentristen umstritten ist, steht der frühere Aussen- und Gesundheitsminister Jeremy Hunt vor der umgekehrten Situation. "Es gibt sechs bis sieben Kandidaten. Man muss jetzt die Umfrage unter Parteimitgliedern abwarten", meint Experte Bale. Sobald deutlich werde, wen die Basis favorisiert, würden die Abgeordneten entsprechend handeln.

Dvorak erwartet derweil ein "Schauspiel eines Kampfes" um die Nachfolge von Johnson. "Ein Gerücht besagt, dass die jetzige Aussenministerin Liz Trust der Liebling der Parteibasis sein soll", sagt er.

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Internationale Folgen werden nicht erwartet

Dass der Rücktritt Johnsons spürbare Folgen in internationalen Beziehungen zeitigen wird, glauben beide Experten nicht. "Es wird keine Auswirkungen auf die Unterstützung der Ukraine durch Grossbritannien geben und es ist auch unwahrscheinlich, dass sich der Kurs gegenüber der EU ändert", meint Bale.

Dieser werde weiterhin sinnlos aggressiv und wirtschaftlich schädlich sein. "Vielleicht wird sich die Wirtschaftspolitik ein bisschen ändern, aber die Conservatives sollten sehr vorsichtig sein, in Bezug auf die Wahlen, die Ausgaben zu kürzen, um Raum für Steuersenkungen zu schaffen", kommentiert er.

Auch Dvorak sagt: "Im Inneren wird sich für die Konservative Partei ohne Boris Johnson das gleiche Problem ergeben, wie mit ihm: Wo bleiben die verheissenen Verbesserungen für die Bevölkerung durch den Brexit und die versprochenen staatlichen Investitionen im Norden Englands?". Die Losung "Get Brexit Done", mit der Johnson eigentlich in die Geschichtsbücher eingehen wollte, wird durch eine andere ersetzt werden müssen.

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Über die Experten:
Prof. Dr. Tim Bale lehrt Politikwissenschaften an der Queen Mary Universität in London. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt britische Parteipolitik.
Dr. Johann Dvorak lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Er forscht schwerpunktmässig zur Entstehung und Entwicklung des modernen Staates sowie zur Geschichte und Soziologie von Wissenschaft und Bildung, Politik und Ästhetik.
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