Irlands Premier Leo Varadkar ist anders: ein schwuler Arzt mit indischen Wurzeln. Seine Regierung steht unter Druck. Doch aussenpolitisch hat er geschickt verhandelt und könnte zum Brexit-Gewinner werden. Er hat etwas erreicht, was Irland seit 800 Jahren nicht gelungen ist.

Dr. Wolfram Weimer
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Wolfram Weimer dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Als Boris Johnson noch Aussenminister war, fragte er seinen Stab einmal, wer eigentlich dieser Leo Varadkar sei: "Warum heisst der nicht Murphy wie all die anderen Iren?" Ein klassischer Johnson-Scherz, doch einer mit Pointe. Denn der irische Premierminister ist alles andere als ein typischer Politiker Irlands.

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Er ist Arzt, Sohn eines indischen Immigranten und bekennend schwul. Und er verfolgt im katholischen Irland ganz eigene Wege. So befürwortet er die Legalisierung der Abtreibung, geht kaum - was in Irland eigentlich zur politischen Kultur gehört - auf Beerdigungen und macht lieber nächtliche Überstunden mit Akten als im Pub bei Livemusik ein Bierchen zu trinken. Seine Gegner rufen ihn "swot" - Streber.

Varadkar führt eine Minderheitsregierung und steht innenpolitisch seit Monaten unter Druck. Dass er sich überhaupt seit gut zwei Jahren im Amt halten kann, hat er eigentlich dem Brexit zu verdanken. Denn die Sorge der Iren vor dem Schock eines No-deal-Brexit ist so gross, dass man die eigene, mässig beliebte Regierung lieber im Amt hält, um Stabilität zu gewährleisten.

Die EU steht geschlossen hinter Irland

Für Irland ist der Brexit eine Existenzfrage. Kein EU-Staat ist unmittelbarer betroffen, in keinem Land sind die wirtschaftlichen Folgen gravierender, nur hier gibt es eine Landgrenze, und diese ist für Irland zudem eine Frage nationaler Identität. Die Offenheit der Grenzen ist ein Kernelement des Karfreitagsabkommens von 1998, das den nordirischen Bürgerkrieg beendet hat und den Frieden sicherstellt.

"Nichts darf die offene Grenze gefährden" tönt Varadkar daher seit Monaten in die Brexit-Verhandlungen. Und er hat Erfolg. Dem Premierminister ist es gelungen, die gesamte EU geschlossen hinter Irland zu versammeln und auch der letzte Kompromiss im Brexit-Poker trägt seine Handschrift. In London weiss man inzwischen, wer den Schlüssel zur Lösung des Problems in der Hand hält: der Nicht-Murphy aus Dublin.

Der britische Guardian schreibt: "Johnson ist gezwungen zu ihm aufzuschauen. Buchstäblich und bildlich. Denn der 1,93 Meter Varadkar steht auf den Schultern der Europäischen Union, ihrer Kommission, ihres Parlaments und aller 27 Mitgliedstaaten." Selbstbewusst verkündet Varadkar daher an die Adresse Londons: "Keine britische Regierung sollte Irland etwas aufzwingen, was die Menschen in allen Teilen Irlands nicht wollen."

Nordirland nähert sich Irland an

Tatsächlich führt der neueste Brexit-Kompromiss dazu, dass Nordirland wirtschaftlich künftig näher an Irland als an Grossbritannien gebunden scheint. Die FAZ diagnostiziert sogar: "Erstmals in den 800 Jahren englisch-irischer Geschichte hat das kleinere Land grösseres Gewicht als das einstige Empire – jedenfalls solange die europäische Solidarität trägt."

Johnson und Varadkar haben sich auf einem bildmächtigen Spaziergang in Thornton Manor auf den jetzigen Brexit-Plan geeinigt. Seit diesem Spaziergang-Deal steigen die Sympathiewerte Varadkars wie Johnsons an. Beide würden politisch Nutzen davon tragen, sollte es gelingen. Beide wären in ihren Ländern dann die Brexit-Macher, die das Schlimmste verhindert haben. Beide gehen vorgezogenen Neuwahlen mit Zuversicht entgegen.

Leo Varadkar: Katholisch, indisch, schwul

Für den untypischen Iren, der sich als schwuler Swot verhöhnen lassen musste, wäre der Wahlsieg ein persönlicher Triumph. Varadkars Vater, ein Hindu aus Mumbai, ist in den sechziger Jahren nach England eingewandert, um dort als Arzt zu arbeiten. Er heiratete eine irische Krankenschwester und zog nach Dublin.

Leo wurde katholisch wie seine Mutter und Arzt wie sein Vater, fleissig wie beide. In der liberal-konservativen Partei Fine Gael machte er Karriere von der Lokalpolitik bis ins Parlament. Nach dem Machtwechsel von 2011 berief ihn Enda Kenny zum Minister für Verkehr, Tourismus und Sport, ab 2014 war er Gesundheitsminister.

Im Januar 2015 outete er sich an seinem 36. Geburtstag als erster Minister in der irischen Geschichte als homosexuell. Er wollte vor dem Referendum über die gleichgeschlechtliche Ehe klarstellen, dass es von ihm aus keine "versteckte Agenda" gebe.

Eine versteckte Agenda der anderen Art werfen ihm die Nationalisten in London vor. Varadkar habe mit der Rückendeckung Brüssels so geschickt verhandelt, dass er Nordirland ein Stück weit aus Grossbritannien herausgebrochen habe. In Dublin sieht man das ähnlich, nur eben mit positivem Urteil. Dort wird genüsslich die Episode aus der Jugend kolportiert, als er bei einer Klassenfahrt nach Nordirland Feuerwerksraketen zurück nach Irland schmuggelte. Jetzt sei es an der Zeit, diese gesamt-irisch abzufackeln.

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