- Die Verhandlungen zu den Beziehungen zwischen der EU und Grossbritannien gestalten sich schwierig.
- Können sich beide Seiten nicht auf einen Deal einigen, drohen niedrigere Einkommen und höhere Arbeitslosigkeit.
- Die schwierige Lage seines Landes könnte Premier Boris Johnson noch zu Zugeständnissen zwingen.
Den Verhandlungspartnern bleiben rund sechs Wochen: Bis zum 31. Dezember 2020 müssen sich die Europäische Union und ihr Ex-Mitglied Grossbritannien auf ein Abkommen einigen. Anderenfalls wird die Übergangsphase mit einem ungeregelten Brexit enden – und mit weitreichenden Folgen.
Brüssel und London liegen bei zentralen Streitthemen noch weit auseinander. Ein fertiges Abkommen müsste zudem rechtzeitig übersetzt und von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden.
"Die Zeit wird knapp", schrieb EU-Chefunterhändler Michel Barnier vor kurzem auf Twitter. "Fundamentale Differenzen bestehen weiter, aber wir arbeiten hart an einem Deal."
Weniger Handel, weniger Einkommen, weniger Arbeitsplätze
Klar ist, dass sowohl das Vereinigte Königreich als auch die EU hart getroffen wären, wenn sie sich nicht auf ein Abkommen einigen. Beide Seiten müssten Zölle erheben, lange Wartezeiten an den Grenzen könnten Lieferengpässe zur Folge haben, der Handel zwischen den Ländern würde wahrscheinlich zurückgehen.
"Das Vereinigte Königreich wird ohne Deal 2021 in eine Rezession fallen und dürfte mittelfristig ein Stagflationsproblem bekommen", erklärt Paul Welfens, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Bergischen Universität Wuppertal, im Gespräch mit unserer Redaktion. Mit Stagflation ist eine Kombination aus stagnierendem Realeinkommen und Inflation gemeint.
Schwer in Zahlen zu fassen sind die möglichen politischen Folgen: Im europafreundlichen Schottland hat der EU-Austritt dem Wunsch nach staatlicher Unabhängigkeit Auftrieb gegeben. Sollte nach einem harten Brexit wieder eine feste Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland entstehen, wäre nach Ansicht vieler Experten dort der mühsam erarbeitete Frieden in Gefahr.
Ungeregelter Brexit hätte auch für die EU und Deutschland Folgen
Die europäische Seite würde wohl glimpflicher davonkommen. Allerdings hätte ein ungeregelter Brexit auch für Deutschland und die anderen EU-Länder Folgen. Paul Welfens rechnet damit, dass die deutschen Exporte ins Königreich ohne Deal in den kommenden zwei Jahren um 10 Prozent sinken werden. "Das wäre immerhin ein Verlust von einem Viertelprozentpunkt des Nationaleinkommens."
Nicht zu vergessen sei, dass ein No-Deal-Brexit auch die Nachbarländer Niederlande und Belgien hart treffen würde – die wiederum stellen auch für Deutschland wichtige Handelspartner dar.
Eine Studie im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums kommt zum Schluss, dass in Deutschland 103.000 Arbeitsplätze von einem harten Brexit betroffen wären. Die Bertelsmann-Stiftung hat errechnet, dass das Pro-Kopf-Einkommen der Deutschen um 115 Euro pro Jahr zurückgehen könnte. Besonders gross wäre demnach aber der Einkommensrückgang für die Briten selbst (900 Euro pro Kopf und Jahr).
Die grössten Streitpunkte
Es hakt in den Verhandlungen einerseits bei der Fischerei: Bisher hatten EU-Mitglieder einen weitgehend freien Zugang zu britischen Gewässern. Vor allem Flotten aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden sind weiterhin darauf angewiesen. Die britischen Unternehmen dagegen wollen, dass der britische Fisch ihnen gehört: Bisher holen ausländische Flotten mehr Fisch aus britischen Gewässern als die Briten selbst.
Ein weiterer Streitbegriff lautet "level playing field", was sich mit gleichen Wettbewerbsbedingungen übersetzen liesse. Die EU will dem freien Handel mit dem Vereinigten Königreich nur zustimmen, wenn dort vergleichbare Sozial- und Umweltstandards gelten. Die Briten dagegen wollen diese Regeln selbst festlegen.
Einigung weiterhin möglich
Im Oktober machte
Trotzdem ist Johnson in einer schwierigen Lage: Ein erhofftes Freihandelsabkommen mit den USA ist durch den Wechsel im Präsidentenamt in weiter Ferne. "Auf jeden Fall wird Joe Biden es Johnson nicht so leicht machen, wie es Donald Trump seiner Erwartung nach gemacht hätte", sagt Paul Welfens.
Cummings-Abgang als Zeichen?
Das Vereinigte Königreich hat durch die Corona-Pandemie zudem bereits einen schweren wirtschaftlichen Schock zu verdauen – die wirtschaftlichen Folgen des Brexits kämen noch obendrauf. "Der Druck auf Johnson ist maximal. Wegen der massiven Corona-Wirtschaftskrise dürfte er zum Jahresende doch einen Deal mit der EU suchen."
Mitte November trennte sich der britische Premier von seinem umstrittenen Berater und Brexit-Hardliner Dominic Cummings. Der Schritt wird als Zeichen gewertet, dass Johnson sich innen- wie aussenpolitisch von seinem konfrontativen Kurs verabschieden will.
Experte Welfens geht davon aus, dass Johnson letztlich darauf angewiesen ist, einem Deal zuzustimmen. Wahrscheinlich werde es zumindest ein Last-Minute-Abkommen geben, um eine längere Übergangszeit für weitere Verhandlungen zu bekommen.
Von der Leyen: "Werden alles tun, um eine Einigung zu erreichen"
Auch die EU hofft weiter auf eine Einigung. Nach schwierigen Wochen mache man inzwischen grössere Fortschritte, sagte Kommissionspräsidentin
Am Mittwoch im Europaparlament sagte von der Leyen allerdings: "Ich kann Ihnen heute immer noch nicht sagen, ob es am Ende ein Abkommen geben wird." Die nächsten Tage würden entscheidend.
Es gebe immer noch sehr ernste Differenzen. "Mit nur noch sehr wenig Zeit vor uns werden wir alles in unserer Macht tun, um eine Einigung zu erreichen", sagte von der Leyen. "Wir sind bereit, kreativ zu sein. Aber wir sind nicht bereit, den Bestand unseres Binnenmarkts in Frage zu stellen."
EU im Königreich so beliebt wie nie
In Brüssel dürfte auch eine repräsentative Umfrage des Pew Research Center für Genugtuung gesorgt haben: Darin sagen 60 Prozent der befragten Briten, dass sie eine positive Meinung von der Europäischen Union haben – ein historischer Höchstwert und ein Plus von sechs Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr. Dazu beigetragen hat offenbar die Bewertung des Corona-Krisenmanagements: Nur 46 Prozent der Briten sind der Meinung, dass ihre eigene Regierung beim Umgang mit der Pandemie einen guten Job mache. Der EU dagegen stellen bei dem Thema 64 Prozent ein gutes Zeugnis aus.
Wirtschaftswissenschaftler Paul Welfens glaubt jedoch nicht, dass sich die EU auf solchen Zahlen ausruhen kann: Die Mitgliedsländer müssten ihre Zusammenarbeit verstärken. Wenn das wegen der aktuellen Blockadepolitik von Polen und Ungarn nicht mit allen Staaten möglich sei, dann doch zumindest auf der Basis der Euro-Staaten: mit Parlament, Regierung und Budget für die Eurozone. "Die EU beziehungsweise die Eurozone brauchen Handlungsfähigkeit, da der weitere ökonomische Aufstieg Chinas absehbar ist und mit auf Jahre politisch geschwächten USA zu rechnen ist."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Prof. Dr. Paul J.J. Welfens
- Deutschlandfunk.de: Verhandlungsmasse Fisch
- Deutsche Presse Agentur (dpa)
- Europäische Kommission: Discours de Michel Barnier en séance plénière du Parlement européen
- Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle / DIW Berlin: Kurzfristige ökonomische Effekte eines "Brexit" auf die deutsche Wirtschaft
- Pew Research Center: Majorities in the European Union Have Favorable Views of the Bloc
- The Guardian: Brexit deal close to being finalised, EU ambassadors told
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