- Grossbritannien scheint sehenden Auges in die nächste Krise zu schlittern.
- Doch Boris Johnson tut beim Parteitag der Konservativen so, als sei das alles Teil einer von langer Hand geplanten Strategie.
- Kritiker halten das für einen Bluff. Kommt er trotzdem damit durch?
Fehlende Fachkräfte, schwindelerregend hohe Energiepreise und eine wachsende Inflationsgefahr: Grossbritannien steht womöglich ein harter Winter bevor. Doch auf dem Parteitag der britischen Konservativen in Manchester in dieser Woche konnte man den Eindruck gewinnen, es gäbe all diese Probleme nicht.
Die Tory-Partei präsentiert sich nach Jahren des Brexit-Gezerres ungewohnt harmonisch. Der Austritt aus der EU spielt abgesehen von dem mit grosser Bitterkeit geführten Streit mit Brüssel über den Status Nordirlands keine Rolle mehr.
Die Parteimitglieder, so der Eindruck, wollen sich möglichst gut unterhalten lassen. Eine der am besten besuchten Veranstaltungen ist ein Gespräch mit dem Abgeordneten Jacob Rees-Mogg, der unter anderem Anekdoten über den Seekriegshelden des 19. Jahrhunderts, Vize-Admiral Nelson, zum Besten gibt.
Schweinebauern sind wütend auf Boris Johnson
Nicht so harmonisch wirkt es, wenn man das Konferenzgelände verlässt und auf die Strasse hinaustritt. Dort stehen wütende Schweinebauern und Schlachter, die sich von
Corona und der Brexit - dieser Mix habe seinen Betrieb an den Rande des Ruins gebracht, klagt Adam Cheale, der in der Grafschaft Essex einen Schlachtbetrieb leitet. Während der Pandemie seien seine ausländischen Angestellten nach Hause gegangen, um nicht ohne Arbeit in Grossbritannien steckenzubleiben, sagt er.
Nun kämen sie wegen der seit dem Brexit verschärften Einwanderungsregeln nicht mehr zurück. Die Folge dürfte sein, dass schon bald Zehntausende Schweine gekeult und verbrannt werden müssen. Die Einreise-Regeln für Fachkräfte aus dem Ausland müssten gelockert werden, so Cheale, doch Johnson höre einfach nicht zu.
Witze als Antwort auf drängende Probleme des Fachkräftemangels
Johnsons Antwort darauf gehört auch eher in die Kategorie Unterhaltung als Politik. Getötet werden, das sei, was eben üblicherweise mit Schweinen in diesem Land passiere, witzelt er in den zahlreichen TV- und Radiointerviews während der Konferenz. Einem Radiomoderator, der ihn auf das Problem anspricht, antwortet er beharrlich mit der Gegenfrage: "Haben Sie schon mal ein Bacon-Sandwich gegessen?"
Das Problem mit dem Fachkräftemangel steckt auch hinter der Kraftstoffkrise, die Grossbritannien seit eineinhalb Wochen im Griff hat. An den Anblick kilometerlanger Schlangen vor den Tankstellen hat man sich beinahe gewöhnt, in die sich die Briten geradezu stoisch einreihen. Dem Land fehlen schätzungsweise 100.000 Lastwagenfahrer. Doch das Angebot der Regierung in London, befristete Visa für einige Monate Arbeit in Grossbritannien auszustellen, haben bislang gerade einmal rund 130 Fernfahrern angenommen, wie der Premier eingestehen muss.
Doch glaubt man ihm, dann haben die Engpässe, die auch zu teilweise leeren Supermarktregalen führen, wenig mit dem Brexit und viel mit der Pandemie zu tun, von der sich die Weltwirtschaft nun mit einem grossen Nachfrageschub erhole. Das Land befinde sich in einer Übergangsphase hin zu höheren Löhnen und höherer Produktivität, schwärmt Johnson. "Unkontrollierte Einwanderung" wie zu Zeiten der EU-Mitgliedschaft werde es nicht mehr geben, macht er deutlich.
Johnson hat den "magic touch" - und das scheint zu reichen
David Henig, ein Handelsexperte von der Denkfabrik UK Trade Policy Project, kann sich das Lachen über die Johnson-Logik nicht verkneifen. Er hält die Argumente des Premiers für "reine Rhetorik" und ad hoc ausgedacht. Die Chancen, dass aus der Krise tatsächlich besser bezahlte Arbeitsplätze entstehen könnten, seien "sehr gering", sagt er.
Trotzdem scheine Johnson damit durchzukommen. "Er hat einfach den "magic touch"", so Henig weiter - damit meint er die magisch wirkende Fähigkeit Johnsons, Menschen von seinen Argumenten zu überzeugen. Es müsse nur gut klingen, ob es auch stimme, sei schon in wenigen Monaten nicht mehr von Bedeutung, wenn die Schlagzeilen wieder von anderen Themen bestimmt werden, sagt Henig.
Ist Grossbritanniens Premier jetzt glaubwürdiger?
Suzie Morley, eine Bezirksratsvorsitzende aus der ostenglischen Grafschaft Suffolk, die sich beim Parteitag für mehr Kompetenzen auf lokaler Ebene einsetzt, hält Johnsons Argumentation hingegen für plausibel. Das, obwohl sie sich als Brexit-Gegnerin einst über den Politiker und seine Halbwahrheiten sehr geärgert hat. "Ich hab die Slogans einfach nicht geglaubt", sagt sie.
Gefragt, warum Johnson inzwischen vertrauenswürdiger geworden sein sollte, kommt Morley ein wenig ins Grübeln. "Weil wir ein Team sind", sagt sie schliesslich. Hinter Johnson und seinem Kabinett stehe eine ganze Riege kompetenter Abgeordneter, Mitarbeiter in Ministerien und Lokalpolitiker, die mit ihrer Expertise zur Verfügung stünden.
Ob sie Vertrauen hat, dass man ihnen auch Gehör schenken wird? Da lacht sie, kreuzt die Finger und sagt: "Hoffen wir's." ( Christoph Meyer/hub/dpa)
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