Über 90 Prozent der Strafurteile fällen in der Schweiz nicht Richter, sondern Staatsanwälte. Wie ist das möglich? Das Zauberwort heisst "Strafbefehl". Er ist umstritten – aber unschlagbar günstig.
Kürzlich titelten Schweizer Medien: "Bundesanwaltschaft verurteilt IS-Sympathisanten zu bedingter Freiheitsstrafe". Fremde mögen sich verwundert die Augen gerieben haben. Gehört es nicht zur Gewaltentrennung, dass der Staatsanwalt untersucht und Anklage erhebt, während der Richter ein Urteil spricht?
In der Schweiz sieht man das flexibler. Gemäss Schweizer Recht haben Staatsanwälte (und dazu gehört auch die Bundesanwaltschaft) die Kompetenz, eine Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten und Geldstrafen sowie Bussen auszusprechen.
Zudem kann die Staatsanwaltschaft Vermögenswerte in unbegrenzter Höhe einziehen. Das Urteil wird schriftlich und ohne Begründung gefällt. Zwischen 90 und 98 Prozent der Straffälle in der Schweiz werden auf diese Weise erledigt.
Genaue Zahlen gibt es noch nicht. Die Rechtsprofessoren Marc Thommen von der Universität Zürich und André Kuhn von der Universität Neuenburg wollen deshalb mit einem Nationalfondsprojekt "Zahlen und Fakten zum Strafbefehlsverfahren" zusammentragen.
Die Schweiz treibt internationalen Trend auf die Spitze
Laut Thommen haben alle Länder mit den gleichen Problemen zu kämpfen – nämlich mit den Ressourcen in der Justiz. Viele Länder kennen die Möglichkeit von Absprachen zwischen Staatsanwalt und Beschuldigtem (Deals oder Plea Bargaining) sowie die Einstellung eines Verfahrens unter Auflagen. "Es besteht ein internationaler Trend, die Urteilsmacht in Richtung Staatsanwälte zu transferieren", sagt Thommen.
Doch die Schweiz treibt es auf die Spitze: Nur hier können Staatsanwälte Strafen verhängen, ohne dass ein Richter involviert ist. Der Kanton Zürich führte bereits 1919 ein Strafbefehlsverfahren ein. 2011 wurde dieses Verfahren schliesslich auf nationaler Ebene verankert.
Zwar wurden im Gesetzgebungsverfahren durchaus rechtsstaatliche Bedenken geäussert. Aber eine Mehrheit der Parlamentarier und Interessensvertreter fand, die Einsprachemöglichkeit gegen den Strafbefehl genüge. Dass der Beschuldigte ja Einsprache erheben könne, ist eine häufig gehörte Rechtfertigung: Der Strafbefehl sei insofern bloss eine "Urteilsofferte", kein Urteil.
Sogar bei Mord kann der Staatsanwalt richten
Das Schweizer Gesetz beschränkt die Staatsanwälte bloss bei der Höhe der Strafe, die sie verhängen dürfen, nicht bezüglich Deliktsart. Ein Staatsanwalt kann folglich nicht nur bei Übertretungen einen Strafbefehl erlassen, sondern auch bei Vergehen und Verbrechen – sofern er (der Staatsanwalt selbst!) eine der in der Gesetzesbestimmung aufgezählten Strafen für "ausreichend" hält.
Gedacht war das Strafbefehlsverfahren ursprünglich für Massen- und Bagatelldelikte wie Ladendiebstähle oder kleinere Sachbeschädigungen. "Das Strafbefehlsverfahren ist ein typisches Beispiel von Salami-Taktik in der Schweizer Gesetzgebung", meint Thommen. "Man versprach, dass es nur auf Bagatellfälle beschränkt bleibe." Doch inzwischen wird auch mittelschwere Kriminalität mit Strafbefehlen abgefertigt.
Ein Blick ins Strafgesetzbuch zeigt anhand der Mindeststrafen: In Frage kommen unter anderem Delikte wie Diebstahl, Veruntreuung, schwere Körperverletzung, Tötung auf Verlangen, Kindestötung (wenn eine Mutter ihr Kind unmittelbar nach der Geburt tötet), Schändung, Menschenhandel oder fahrlässige Tötung. Laut Altbundesrichter Martin Schubarth wäre sogar bei Mord ein Strafbefehl denkbar, wenn der Täter vermindert zurechnungsfähig ist. Von Bagatelldelikten kann also keine Rede sein.
Einsprache erheben – und wieder vor dem Staatsanwalt landen
In der Schweizer Wissenschaft wird der Strafbefehl durchaus kritisch betrachtet. Schubarth warf die Frage auf, ob das Strafbefehlsverfahren nicht ein Rückfall zum Grossinquisitor sei. Und der emeritierte Strafrechtsprofessor Franz Riklinbezeichnete es als "inquisitorisches Schnellverurteilungsverfahren". Schon 1919 bemängelte ein Wissenschaftler am Zürcher Strafbefehlsverfahren, der Untersuchungsbeamte werde "gleich dem alten Inquisitionsrichter Ankläger, Verteidiger und Richter zugleich".
Auch Thommen, der seine Habilitation zum Thema Strafbefehl geschrieben hat, sieht Verbesserungsmöglichkeiten: Es sei stossend, dass die Einsprache des Beschuldigten gegen den Strafbefehl an den Staatsanwalt gehe. Einen Strafbefehl sollte man laut Thommen auch direkt an ein Gericht weiterziehen können. Sonst fehle die Kontrolle der Staatsanwaltschaften.
Auch kritisiert wird – vor allem von Journalisten – die fehlende Transparenz: Strafbefehle werden nicht öffentlich eröffnet. Sie sind bloss einsehbar. Doch in der Praxis gleicht das einem Hürdenlauf. Es ist daher von Kabinettsjustiz (Geheimjustiz) die Rede.
Das Schnellverfahren hat auch Vorteile
Das Strafbefehlsverfahren hat einen schlagenden Vorteil: Es ist schnell und günstig – auch für den Verurteilten. Für den Verurteilten bietet ein Strafbefehl laut Thommen zudem den Bonus der Diskretion: "Für den Klienten kann ein Strafbefehl attraktiv sein, weil keine öffentliche Verhandlung stattfindet, und somit nie jemand von der Verurteilung erfährt." Zwar liegt der Strafbefehl einige Tage bei der Staatsanwaltschaft auf, doch laut Thommen geht in der Realität kaum jemand vorbeischauen.
Thommen prognostiziert daher, dass das Strafbefehlsverfahren nicht so schnell verschwinden werde. "Alles andere wäre zu teuer", meint er. "Der Strafbefehl ist eine Realität, mit der wir klarkommen müssen."
Kontaktieren Sie die Autorin @SibillaBondolfi auf Facebook oder Twitter.
Echter Fall 1:
Einem Arzt wurde vorgeworfen, ein blutgruppenunverträgliches Herz transplantiert zu haben, woraufhin die Patientin starb. Er wurde per Strafbefehl wegen fahrlässiger Tötung zu einer bedingten Geldstrafe von knapp 40'000 Franken sowie 5000 Franken Busse verurteilt.
Echter Fall 3:
Einem Mitarbeiter einer Schweizer Bank wurde vorgeworfen, Konten eingerichtet zu haben, deren eigentlicher Inhaber ein hoher argentinischer Fussballfunktionär war. Zudem habe er Konten einer Sport-Marketing-Firma aus Argentinien verwaltet, über welche Bestechungsgelder geflossen seien.
Die Bundesanwaltschaft verurteilte den Mann wegen Urkundenfälschung und Verstosses gegen die im Geldwäschereigesetz festgelegte Meldepflicht zu einer bedingten Geldstrafe von 30'000 Franken sowie 8000 Franken Busse. Zudem zog sie 650'000 USD ein. © swissinfo.ch
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.