Terrorismus, Putsch-Beteiligung, sektenähnliche Struktur: Die Vorwürfe gegen die Gülen-Bewegung wiegen schwer. Das liegt auch an der Struktur der weltweit tätigen Organisation. Die liege "zu grossen Teilen im Dunkeln", sagt Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung.

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In der Türkei ist der im US-Exil lebende Prediger Fethullah Gülen der Staatsfeind Nummer eins. Die Bewegung, die seinen Namen trägt und von Anhängern als "Hizmet" (der Dienst) bezeichnet wird, gilt dort als Terrororganisation. Sie habe den Staat durch Parallelstrukturen unterwandert und den Militärputsch gegen die Regierung im Juli angezettelt, heisst es. Anhänger und Befürworter sehen die Gülen-Bewegung als Alternative zum islamischen Radikalismus und Terrorismus. Sie fördere den interkulturellen Dialog, befürworte die parlamentarische Demokratie, säkulare Lebensformen sowie moderne Wirtschaft und Technologie, sagen sie. Welches Bild über die Gülenisten stimmt nun? Was ist über die Bewegung bekannt, was liegt im Dunkeln?

Ziel: Gesellschaft islamischer machen

Kristian Brakel hat die Debatten um die Gülen-Bewegung, mit der 10 bis 15 Prozent der Türken sympathisieren sollen, aus nächster Nähe verfolgt. Er ist Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. "Ihr Ziel ist es, die Gesellschaft islamischer zu machen, aber auch den interreligiösen Dialog zu fördern", sagt der 38-Jährige im Gespräch mit unserer Redaktion. "Dafür investiert sie in Bildungseinrichtungen, sie führt Wirtschaftsunternehmen und hat Unterstützer in wichtigen Positionen der Gesellschaft positioniert." Auch ein Mediennetzwerk mit TV- und Radiosendern sowie Zeitschriften verbreitet die Lehre Gülens.

Weltweit sollen etwa 1.000 Schulen in über 100 Ländern existieren, dazu Kliniken und Universitäten. Dort wird ein verhältnismässig moderater Islam vertreten. Acht bis zehn Millionen Unterstützer werden der Organisation zugerechnet, in Deutschland rund 100.000 Menschen.

Undurchsichtige Strukturen

Die Gülen-Bewegung funktioniert wie ein riesiges Netzwerk, "ähnlich einer studentischen Verbindung, wo ältere Mitglieder den jungen Posten und Vorteile verschaffen", erklärt Türkei-Experte Brakel. "Die Struktur liegt leider zu grossen Teilen im Dunkeln, vieles ist intransparent. Es gibt dezentrale und zentralistische Strukturen, aber wie sie funktionieren, ist unklar, gerade dort wo es über den offiziellen Charakter etwa von Vereinen hinausgeht", sagt Brakel. Unklar ist auch, wie der Gründer Fethullah Gülen eingebunden ist. "Gibt es einen Kommandostrang? Wie viel Einfluss hat Gülen tatsächlich?", fragt der Experte.

Die Islamwissenschaftlerin Necla Kelek spricht von einer "Sekte mit Konzernstruktur" und kritisiert ein angebliches Doppelspiel Gülens: "Nach aussen hin vertritt er eine Art Islam light, nach innen propagiert er einen machtbewussten islamischen Chauvinismus." Andere Beobachter sehen Ähnlichkeiten zu Scientology.

In Deutschland ist die Bewegung mit Nachhilfezentren "in nahezu jeder grösseren Stadt aktiv und bemüht sich, private Schulen zu eröffnen", fand der Islamwissenschaftler Bekim Agai heraus. Ein Motto Gülens lautet: "Baut Schulen statt Moscheen." Ob und wie die Aktivitäten koordiniert werden, ist nicht bekannt. In einem Bericht von "Zeit Online" erzählt eine Aussteigerin von ihren Erfahrungen in einem Nachhilfeverein. Es habe "Unterweisungen, die einer Gehirnwäsche nahekommen" gegeben. Die Lehre des Imams Gülen werde als einzige Wahrheit angepriesen, Widerspruch nicht geduldet.

"Gülenisten legen keine Bomben"

In der Türkei haben Gülenisten in den vergangenen Jahren massgeblichen Einfluss im Militär, in der Justiz, in Polizei und Verwaltung ausgeübt. Mit Billigung Erdogans, der bis zum Bruch 2011 viele Jahre mit den religiösen Gülenisten zusammenarbeitete. Diese enge Zusammenarbeit wird ihnen nun zum Verhängnis. Es heisst, sie hätten einen Staat im Staate gebildet. "Die Unterwanderung des Staatsapparates gibt es tatsächlich – allerdings wusste das Erdogan-Lager davon, denn sie selbst haben die Gülenisten ja in diese Positionen gehievt", erklärt Brakel. Gülenistische Richter gingen in den 2000er Jahren skrupellos und mit offenbar gefälschten Beweisen gegen kemalistische Militärs und Linke vor. Mit Billigung Erdogans, der diese Gruppen auch bekämpfte.

Damals verschwanden Unschuldige im Gefängnis, nach dem Putsch im Sommer traf es die Gülenisten selbst. Und viele Unschuldige, die als Gülen-Unterstützer und Terroristen diffamiert wurden. "Der Terror-Vorwurf ist ein Propaganda-Begriff der türkischen Regierung", betont Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung. Er stellt klar: "Die Gülenisten legen keine Bomben - sie nehmen Einfluss."

Zu viel Einfluss, wenn es nach Erdogan geht

Nur: Auch der Gewalt-Vorwurf ist nicht ganz von der Hand zu weisen: Beim Putsch in der Türkei, bei dem viele Zivilisten getötet wurden, waren nachweislich Gülenisten beteiligt. Jedoch ist unklar, ob die Bewegung als Ganzes dahinter steckt oder ob es nur Einzelpersonen waren. Auch Kristian Brakel ist unschlüssig. "Die Amerikaner sagen, in den angeblichen Beweisen der Türkei über die direkte Verstrickung Gülens, habe sich bisher nichts mit direktem Bezug zum Putsch gefunden." Die "klaren Beweise" sollen sich auf die Zeit vor dem Umsturzversuch beziehen.

Fethullah Gülen, der greise Prediger, lebt weiter abgeschottet in seinem Exil im US-Bundesstaat Pennsylvania. "Wenn sie ein Zehntel von den Vorwürfen beweisen, bin ich dazu bereit, mich selber an die Türkei auszuliefern", sagte der 75-Jährige in Richtung der türkischen Regierung. "Und sogar an den Galgen zu gehen." Wenig deutet zwei Monate nach dem Putsch darauf hin, dass diese klaren Beweise noch auftauchen werden.

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