Es ist eine journalistische Enthüllung mit enormer gesundheitspolitischer Sprengkraft: Durch mangelhafte Implantate oder Prothesen werden weltweit immer mehr Menschen teils schwer verletzt, auch von Todesfällen ist die Rede. Eine niederländische Journalistin gab den Anstoss zu den umfangreichen Investigativ-Recherchen. Ihre Geschichte macht sprachlos.

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In Deutschland und anderen Teilen der Welt werden laut einer internationalen Recherche immer mehr Menschen durch Implantate verletzt oder getötet.

Allein in Deutschland seien allein im vergangenen Jahr 14.034 Mal Verletzungen, Todesfälle und andere Probleme im Zusammenhang mit Medizinprodukten wie künstlichen Hüft- oder Kniegelenken, Brustimplantaten wie Herzschrittmacher oder Insulinpumpen gemeldet worden, berichten NDR und WDR sowie die "Süddeutsche Zeitung".

Die drei Medien haben gemeinsam mit dem internationalen Konsortium für Investigativen Journalisten (ICIJ) zahlreiche Unterlagen zu dem Thema, die sogenannten "Implant Files", ausgewertet.

Mehr als 250 Journalisten von 59 Medien aus 36 Ländern arbeiteten dabei zusammen. Anstoss für die Recherchen gab die niederländische Journalistin Jet Schouten mit einem hanebüchenen Experiment.

Frauen leiden unter Folgen von Vaginal-Netz-Implantat

2012 war Schouten durch einen Brief hellhörig geworden. In dem Schreiben, das ihr zugestellt worden war, berichtete eine Frau über ein Erlebnis, das "so unglaublich und so schrecklich" war, erinnert sich Schouten im Interview mit dem NDR, dass sie daraufhin mit ihren Recherchen begann.

Die Frau hatte über ein sogenanntes "Vaginal-Netz" berichtet, das ihr implantiert worden war. Vaginal-Netze können etwa im Fall einer Beckenbodensenkung oder einem Gebärmuttervorfall eingesetzt werden.

Als sich im Beckenbereich starke Schmerzen bemerkbar machten, hatte die Frau ihre Ärzte angefleht, das Implantat wieder zu entfernen, was mit der Aussage, die Schmerzen seien normal, abgelehnt worden war. Doch das Implantat war verwachsen und nicht mehr abzulösen.

Schouten erkundigte sich daraufhin bei der niederländischen Gesundheitsbehörde, ob Probleme mit dem Vaginal-Netz bekannt seien. Das wurde verneint.

Ein Umstand, der die Journalistin stutzig machte, als sich nach Ausstrahlung der TV-Sendung, in dem der Fall thematisiert worden war, zahlreiche Frauen bei Schouten meldeten und Ähnliches berichteten.

Manche Frauen verrieten: "Man hat mir nicht gesagt, dass ich so ein Vaginal-Netz in mir trage", erinnert sich Schouten im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung". Die Schilderungen der Frauen hätten sie schockiert.

Man habe diese Patientinnen vor die Wahl gestellt: Entweder eine konservative Operation, von der man sich aber nur langsam erhole, oder eben eine ganz "neue, bessere, schnellere Methode".

Von einem Implantat sei in diesen Fällen nie die Rede gewesen, ein verpflichtender Implantat-Ausweis wird in den Niederlanden erst 2020 eingeführt.

Neue Produkte weitgehend ungetestet implantiert

Als sich Schouten immer tiefer in die Thematik einarbeitete, sei sie erstaunt darüber gewesen, "wie wenige Tests erforderlich sind, bevor man Implantate mit hohem Risiko, die oft permanent im Körper bleiben, auf den Markt bringen kann und wie man Produkte designen kann, die man in einen Körper implantiert, ohne darüber nachzudenken, wie man sie wieder rausbekommt".

Zahlreiche Frauen hätten sie nach Ausstrahlung des TV-Beitrages kontaktiert und um Hilfe gebeten, denn "auch sie fanden keine Ärzte, die das Vaginal-Netz bei Komplikationen entfernen konnten".

Auf Nachfrage hätten Gynäkologen ein Gespräch über das Thema verweigert. Und auch der Frau, die den Stein mit ihrem Brief ins Rollen gebracht hatte, wollte bei der Entfernung des Vaginal-Netzes kein Arzt helfen, berichtet Schouten in der "SZ". "Es gab auch keinen Arzt in den Niederlanden oder Nachbarländern, der sich getraut hat, das Netz zu entfernen."

Sie habe der Patientin aber helfen wollen und einen Spezialisten in den USA ausfindig gemacht. Die Kosten von 20.000 Euro für die OP wurden über Crowdfunding gedeckt.

Doch das Thema war damit keinesfalls vom Tisch. Anrufe von Patienten, aber auch Journalisten und Anwälten aus anderen Ländern nährten in Schouten den Verdacht, dass es sich um ein grösseres und internationales Problem handeln müsse. Eines "mit den gleichen Behördenfehlern, den gleichen Patientengeschichten und dem gleichen Mangel an Transparenz".

Also machte sie ein Experiment, was alle Befürchtungen bestätigte. Die Journalistin erkundigte sich bei betroffenen Frauen nach dem Aussehen eines Vaginal-Netzes. Dieses habe Ähnlichkeit mit einem Mandarinen-Netz, hiess es.

Daraufhin ging Schouten in einen Supermarkt und kaufte ein Netz mit den Südfrüchten.

Mandarinen-Netz-Experiment: "Das war ein Schock"

Rund um dieses Netz fingierte sie zusammen mit dem Oxford-Professor Carl Heneghan eine fehlerhafte Produkt-Expertise und reichte diese bei drei bekannten Zertifzierungsbehörden ein, um das CE-Zeichen für eine europäische Zulassung zu erhalten.

"Um ein neues Produkt schneller auf den Markt zu bekommen, orientieren sich viele Hersteller an bereits zugelassenen Produkten. Für die technische Dokumentation kopiert man die Daten, die vorhanden sind, und das war's", so Schouten.

Doch ihr Mandarinen-Experiment ging sogar einen Schritt weiter, wie sie gegenüber der "SZ" erzählt: "Unser Vaginal-Netz hatte acht Arme, zwei mehr als die üblichen Produkte am Markt. Das war ein Schock, als wir hörten: Dem CE-Zeichen steht nichts im Weg."

An dieser Stelle brach Schouten das Experiment ab. Die tatsächliche Zertifizierung des Netzes wäre ohnehin daran gescheitert, dass die Journalistin keine Produktionsfirma hätte vorweisen können.

Keine Nachfragen über "unser lächerliches Produkt"

Für eine Produktion abgesegnet wäre es aber gewesen, denn "in unseren Gesprächen mit den Benannten Stellen [Prüfstellen, Anm. d. Red] sagte man uns: Wir sehen bei der Zulassung kein Problem", so Schouten. "Sie fragten nicht einmal nach der Sicherheit unseres lächerlichen Produkts."

Bei den anschliessenden Recherchen zu den "Implant Files" bestätigte sich tatsächlich, dass derartige Neu-Produkte im medizinischen Bereich häufig ohne Langzeitstudien und verlässliche Verträglichkeitstest in die Körper der Patienten implantiert würden. Betroffene bezeichnen sich deshalb auch selbst als "Versuchskaninchen".

Anders als beispielsweise in den USA treffen in Deutschland private Prüfunternehmen wie TÜV, Dekra oder Eurofins die Entscheidung darüber, ob ein Implantat in der EU zugelassen wird, berichtet die "SZ".

Wird das Produkt von einer Behörde abgelehnt, bedeutet das längst nicht das Aus. Der Hersteller kann es einfach bei einer anderen "Benannten Stelle" versuchen und dort eventuell das CE-Zeichen bekommen.

TÜV muss Produkt gar nicht gesehen haben

Katrin Langhans aus dem Recherche-Team der "Süddeutschen Zeitung" meint im SZ-Podcast "Das Thema" dazu: "Man kennt beispielsweise den TÜV vom Auto und denkt dann, dass die sich die Produkte anschauen. Bei Medizinprodukten ist es aber so, dass der TÜV das gar nicht muss. Er kann sich einfach die Prüfunterlagen und Laborwerte anschauen und dann sagen: 'Das reicht mir, ich gebe grünes Licht.'"

Unter Berufung auf interne Unterlagen des Gesundheitsministeriums haben NDR, WDR und "SZ" aufgedeckt, dass aufrund dieses Procederes in Deutschland regelmässig Produkte implantiert würden, die kaum getestet worden seien.

Langhans spricht das Hauptproblem an, welches die Ungeheuerlichkeit des Skandals zum Ausdruck bringt. "Der Punkt ist, dass die meisten Produkte - darunter auch Hochrisiko-Produkte - bei uns auf den Markt kommen, ohne dass es dazu jemals eine klinische Studie gab, ohne dass sie jemals im Menschen getestet wurden."

Entschädigungszahlungen mit Schweige-Klausel

Im Krankenhaus würden Patienten in der Regel gar nicht erfahren, ob ihnen nun ein seit Langem bewährtes Implantat oder etwas völlig Neues und Ungetestetes in den Körper eingesetzt wurde, so Langhans.

Schäden durch Medizinprodukte würden zudem selten publik, da die Hersteller im Klagefall Entschädigungszahlungen an Verschwiegenheitsverpflichtungen der Betroffenen knüpften, heisst es in dem Bericht zu den "Implant Files".

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte wisse zwar, welche Produkte in den vergangenen Jahren zu den meisten Todesfällen und Verletzungen geführt hätten.

Sowohl die Aufsichtsbehörde als auch das Bundesgesundheitsministerium verweigerten aber Auskunft darüber, weil es sich um vertraulich Informationen handele.

Das aber dürfte sich nun mit den Enthüllungen rund um die "Implant Files" zweifellos ändern.

Verwendete Quellen:

  • Süddeutsche Zeitung: Was Sie über die Implant Files wissen müssen
  • Süddeutsche Zeitung: "Sie fragten nicht einmal nach der Sicherheit unseres lächerlichen Produkts"
  • SZ-Dossier: Implant Files
  • NDR: "Medizinprodukte: Zulassung leicht gemacht"
  • SZ-Podcast "Das Thema": "Implant Files: Das kranke System"
  • ICIJ: Medical Devices Harm Patients Worldwide As Governments Fail On Safety


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