In einer denkwürdigen Sitzung ist die Ampelkoalition am Mittwochabend zerbrochen. Was ist im Kanzleramt passiert? Eine Rekonstruktion.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Fabian Busch und Fabian Hartmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Keine quälenden Nachtsitzungen: Das hatten sich die Partner der Ampelkoalition zu Beginn versprochen. Es gab dann aber nicht nur viele lange und offenbar quälende Krisentreffen der Spitzen von SPD, Grünen und FDP. Nach knapp drei Jahren ist die Koalition auch in eben so einer Nachtsitzung zerbrochen. Wobei: Es war zwar schon dunkel, aber noch Abend. Und verglichen mit anderen Sitzungen ging es auch ziemlich schnell.

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Am Mittwochabend also war die Koalition nach einer denkwürdigen Sitzung Geschichte: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) entliess seinen Finanzminister Christian Lindner (FDP) und besiegelte so das Ende der Ampel. Was ganz genau im Kanzleramt geschah, wissen nur die Teilnehmer selbst. Aber wie das bei so folgenreichen Sitzungen eben ist: Im politischen Berlin sickert am Tag danach doch einiges nach draussen.

Vorschlag, Ablehnung, Indiskretion – und Rauswurf

Wie zu hören ist, trug sich die Sitzung im Kanzleramt in etwa so zu: Lindner machte in der Runde den Vorschlag, die Koalition durch baldige Neuwahlen zu beenden. Bis zur Übergabe an die Nachfolgerregierung solle das Kabinett aber noch im Amt bleiben. Scholz lehnte das ab. Er forderte die FDP-Minister auf, bis zur regulären Bundestagswahl im Amt zu bleiben. Was der Kanzler ausserdem von den Liberalen wollte: ein Abweichen von der Schuldenbremse, ein Hilfspaket für die Autoindustrie, Prämien für investierende Unternehmen und Rabatte bei den Strompreisen in Form von Subventionen.

Bei Lindner stiess er damit auf Widerstand. Die FDP-Runde erbat sich Bedenkzeit und verliess den Raum. In dieser Zeit soll ein FDP-Vertreter (möglicherweise Lindner selbst) die Information an die "Bild"-Zeitung durchgestochen haben: Lindner bietet Neuwahlen an – die Zeitung meldete das prompt.

Als die FDP-Riege in die grosse Runde zurückkehrte, war die Indiskretion in der Welt – und Scholz offenbar sauer. Er kündigte daher an, Lindner als Finanzminister zu entlassen. Daraufhin herrschte einige Sekunden Stille. Und dann sagte Scholz Teilnehmern zufolge einen Satz, der so gut zu ihm passt, dass die Anekdote ziemlich glaubwürdig klingt: "So. Doof."

Überraschende Vehemenz

Dass die Koalition an diesem Abend zerbrach, hatten die meisten Teilnehmer zuvor erwartet oder zumindest für möglich gehalten. Die Vehemenz von Scholz dagegen hat viele überrascht. Lindner soll danach wütend das Kanzleramt verlassen haben. Scholz warf er vor, diesen Rauswurf geplant zu haben – schliesslich hatte der Kanzler kurz danach eine gepfefferte Rede parat. Aus Koalitionskreisen ist aber auch zu hören, dass beide sich auf diesen Showdown eingestellt hatten: Scholz wie Lindner.

Dazu passt das Gerücht, dass es nicht nur eine Redevorlage für Olaf Scholz an diesem Abend gab. In der Schublade lag wohl auch die Version für die Einigung. Der doppelte Kanzler?

Die rote Linie der FDP

Die liberale Version des Abends geht so: Das von Lindner in der Woche zuvor vorgestellte Wirtschaftspapier sei keinesfalls eine Scheidungsurkunde gewesen, vielmehr eine Grundlage zur Debatte. Unstrittig ist schliesslich, dass sich die deutsche Volkswirtschaft in der Krise befindet. Und das nicht erst seit gestern.

Als die Liberalen am Mittwochabend also im Kanzleramt ankamen, hofften sie auf einen wirtschaftspolitischen Vorschlag des Kanzlers. Doch der habe Christian Lindner vor allem gedrängt, die Schuldenbremse erneut auszusetzen – eine rote Linie für die FDP und den Finanzminister. Scholz verwies auf die Ukraine und die angespannte Weltlage. Die Wahl Donald Trumps zum US-Präsident am selben Tag habe zusätzlichen Handlungsdruck erzeugt.

Was folgte, ist bekannt.

Die liberale Erzählung ignoriert dabei eines: FDP-Chef Lindner hat Scholz, SPD und Grüne die letzten Wochen fortlaufend provoziert. Kaum eine Wortmeldung des Finanzministers kam ohne einen Seitenhieb gegen die Koalitionspartner aus. Der Plot: Hier der Ordnungspolitiker Lindner, da die Schuldenmacher und Planwirtschaftler Scholz und Habeck. Die FDP als Teil einer extrem unbeliebten Koalition, das Leiden an der Ampel – auch und vor allem, weil SPD und Grüne alles falsch machen. Redet so jemand, der noch an Einigung interessiert ist?

Offenbar wollten beide das Ende

Doch auch Scholz wollte offenbar einen Schlussstrich ziehen. In der SPD finden schliesslich viele: Zu lange hat Lindner der Koalition seinen Stempel aufgedrückt. Oder schärfer: Ihr auf der Nase herumgetanzt. Immer wieder nahm Scholz Rücksicht auf seinen Finanzminister. Und immer wieder zerredeten die Liberalen Kompromisse der Koalition.

Wer hat hier wen entlassen? Hat Scholz Lindner brüsk vor die Tür gesetzt – oder eher Lindner sich selbst? Vielleicht beides. Offenbar entstand in dieser Sitzung eine gewisse Dynamik, bei der der Kanzler seinem Finanzminister das Heft des Handelns aus der Hand nahm. Ob aus purer Verzweiflung oder klugem Machtwillen – das bleibt dahingestellt.

Scholz soll Lindner beim Krisentreffen festgenagelt haben: Ob er seinen Weg mitgehe? Lindner verneint. Dann soll Scholz zu ihm gesagt haben: "Ich möchte nicht mehr, dass du Finanzminister in meinem Kabinett bist." Das Ende der Ampel. Zerbrochen am Ego zweier Männer, die nicht mehr miteinander konnten. Und wollten.

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