Der Terrormiliz den Rücken zu kehren, ist kompliziert und gefährlich. Britische Wissenschaftler um Terrorexperte Peter R. Neumann haben Berichte von IS-Aussteigern ausgewertet - mit interessanten Erkenntnissen und wegweisendem Fazit.
Wer den sogenannten "Islamischen Staat" (IS) verlässt, lebt in ständiger Angst. Angst vor den brutalen Milizen, denen er zuvor selbst angehört hat. Aussteiger müssen sich verstecken, ihre Familie in Sicherheit bringen, sich ein neues soziales Umfeld aufbauen.
Sie fürchten sich vor Vergeltung, aber auch vor rechtlichen Konsequenzen für ihre Taten – und gehen deswegen nur selten mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit. So beschreiben es die Wissenschaftler am Londoner King’s College.
Sie haben unter der Leitung des Terrorismusexperten Peter R. Neumann Berichte von 58 Aussteiger aus 17 Ländern ausgewertet – für sie "nur ein kleiner Bruchteil der vielen desillusionierten Kämpfer". Der Studie zufolge ist es "kompliziert und gefährlich", dem IS den Rücken zu kehren.
Zunächst müssen Ausstiegswillige es schaffen, sich überhaupt vom IS zu trennen und sichere Gebiete zu erreichen. "Aber selbst die, denen das gelingt, sind nicht zwangsläufig sicher."
Brutalität, Korruption, harte Realität
Die Wissenschaftler stellten fest, dass den "Flüchtenden" die Brutalität und die Willkür der Terrormiliz zu weit geht. Die ehemaligen Mitglieder kritisierten, dass der IS lieber Zivilisten töte als die Assad-Regierung zu bekämpfen. Und dass selbst sunnitische Muslime zu den Opfern zählten. Sunnitische Stämme gelten als Sympathisanten des Islamischen Staats, viele schworen dem Kalifat bereits die Treue.
Der Islam hat zwei grosse Glaubensrichtungen: den Sunnismus und den Schiismus. Zwischen Angehörigen der beiden Hauptströmungen gibt es zwar teilweise gewaltsame Auseinandersetzung. Beim IS handelt es sich allerdings selbst um eine sunnitische Dschihadisten-Gruppe.
Aussteiger ärgerten sich der Studie zufolge auch über Korruption innerhalb der Terrormiliz. Und sie waren überrascht: von den schwierigen Lebensbedingungen, von der harten Realität des Krieges.
"Hier ist ja doch richtig Krieg!"
Das beobachten auch die Fachleute des Berliner Violence Prevention Network, einem Netzwerk zur Extremismusprävention und zur Deradikalisierung extremistisch motivierter Gewalttäter. "Sie merken plötzlich "hier ist ja doch richtig Krieg" – und kommen völlig desillusioniert zurück", sagt uns deren Sprecher Paul Merker.
Der Wolfsburger Ebrahim B., der sich dem IS angeschlossen hatte und zurückkehrte, gab im Sommer dem Norddeutschen Rundfunk ein Interview: "Gefängnis in Deutschland ist mir viel lieber als Freiheit in Syrien – dann können Sie sich vorstellen, wie schrecklich es war." Ebrahim B. ist einer von bisher über 760 aus Deutschland ausgereisten Islamisten.
In Österreich und der Schweiz ist die Lage ähnlich: Mehr als 250 radikale Islamisten sind von Österreich nach Syrien in den Heiligen Krieg gezogen. Rund 70 kamen bisher zurück.
Der Schweizer Nachrichtendienst des Bundes (NBD) verzeichnet aktuell 71 Fälle von Dschihadreisenden, der Grossteil begab sich nach Syrien. Die Anzahl der Rückkehrer liegt bei 13.
Rückkehrer wollen selten aussteigen
"Rund ein Drittel ist zurückgekehrt", sagt uns eine Sprecherin des deutschen Bundesamts für Verfassungsschutz. "Wir beobachten aber selten, dass sie aussteigen wollen." In der Regel kehrten sie in ihr altes Umfeld, in dem sie sich radikalisiert hätten, zurück. Dass es aber durchaus Rückkehrer gibt, die sich von der Szene lösen möchten, weiss Paul Merker.
Der IS fürchte, dass desillusionierte Rückkehrer andere Ausreisewillige von ihren Plänen abhalten. Gerade darin sehen die Londoner Forscher eine Chance: Die Berichte der Aussteiger seien "ein potenziell mächtiges Werkzeug, den IS zu bekämpfen". Denn jetzt seien sie dessen "schlimmste Feinde".
Netzwerk für Rückkehrer
Zunächst aber müssen Aussteiger in der demokratischen Gesellschaft ankommen. Besorgte Angehörige und ausstiegswillige Rückkehrer können sich an unterschiedliche Institutionen wenden. In Deutschland gehören die Beratungsstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge oder die Anlaufstelle "Hayat" dazu. In Österreich und der Schweiz fehlen bisher Programme wie in Dänemark, wo Rückkehrer Polizisten und später Psychologen ihre Geschichte erzählen.
Experten kritisieren, dass viele Länder sich dieses Themas viel zu spät angenommen hätten – und es an bundesweiten Strategien fehle: Der Londoner Professor Neumann bezeichnete die Prävention in Deutschland in der "taz" sogar als "Kraut und Rüben".
Das Berliner Violence Prevention Network wurde 2004 gegründet. Es arbeitet "an der Re-Integration und De-Radikalisierung" von Aussteigern, erklärt Paul Merker. "Wir wollen dabei nicht, dass sie dem Islam den Rücken kehren oder zum Christentum konvertieren, sondern wir möchten ihnen helfen, der Gewalt abzuschwören und in der muslimischen Community anzukommen."
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